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02.04.2014, Thomas Händel

«Wirtschafts-NATO» kontra Beschäftigte

Von wegen großer Sprung nach vorn für alle: Beim Freihandelsabkommen TTIP werden multinationale Konzerne die Gewinner sein. Ein Gastbeitrag

TTIP wird die USA als auch die EU einen «gigantischen Sprung nach vorne» bringen, so der US-Chefunterhändler für TTIP, Dan Mullaney. Mehr Wachstum, mehr Arbeitsplätze und höhere Einkommen werden prophezeit. Von mehr als zwei Millionen Arbeitsplätzen, davon knapp über eine Million in den USA und ca. 181.000 in Deutschland wird in einer Studie des IFO-Instituts im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung geschwärmt. Dass sich dieser Zuwachs aber erst in den nächsten 20 Jahre ergeben soll, räumt selbst der leitende Ökonom des IFO Instituts, Felbermeier, in Arte ein, «selbst im optimistisches Szenario” seien »die ökonomischen Wirkungen klein«.

In einem Arbeitspapier kommt die Abteilung Wirtschaftspolitik von ver.di zu folgender Analyse: »Gewinner werden vor allem multinationale Konzerne sein. In den USA sind es die großen Dienstleistungsanbieter, die sich Zugang zum Europäischen Markt erhoffen, der bisher weit weniger liberalisiert ist, als der Dienstleistungsmarkt der USA. (...) Auf europäischer Seite würden darüber hinaus insbesondere die Industrieexporteure (z.B. Automobilhersteller) von den Harmonisierungsbestrebungen bezüglich qualitativer und technischer Standards profitieren. Auf beiden Seiten erhoffen sich große Konzerne außerdem aus der Öffnung des öffentlichen Beschaffungswesens neue Geschäftsfelder und daraus resultierende Gewinne.«

Von Freihandelsabkommen profitieren Beschäftigte aber selten bis nie. Einen Beleg liefert das sogenannte NAFTA - Abkommen zwischen Kanada, USA und Mexico. Zehn Jahre nach In-Kraft-Treten des Abkommens am 1. Januar 1994 hatte sich Mexiko unter NAFTA zwar zu einer erfolgreichen Exportnation gewandelt, aber der versprochene breite Wohlstand blieb aus. Heute lebt fast die Hälfte der 100 Millionen Mexikaner in Armut. Mexiko habe es in den zehn Jahren nicht geschafft, den Status der verlängerten Werkbank für die USA zu überwinden, betonen Kritiker.

»Das Abkommen hat seine beiden wichtigsten Versprechen, Arbeitsplätze und Wachstum zu schaffen, nicht gehalten«, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Alejandro Nadal von der Hochschule Colegio de México. Netto seien in den zehn Jahren 750 000 Arbeitsplätze verloren gegangen. Auch das Wirtschaftswachstum bleibe seit Gründung der NAFTA mit durchschnittlich etwa 1,6 % pro Jahr deutlich hinter den Erwartungen zurück. Auch in den USA und Kanada gingen rund 1 Mio. Arbeitsplätze verloren, der Lohndruck auf Millionen von Beschäftigte hat massiv zugenommen. Positive Beschäftigungswirkung also: Fehlanzeige.

Nun stehen die Arbeits- und Sozialrechte auf der Verhandlungsliste auch von TTIP. Zwar heißt es in den (geheimen) Leitlinien der EU-Kommission für die Verhandlungen: »In dem Abkommen sollte anerkannt werden, dass die Vertragsparteien den Handel oder ausländische Direktinvestitionen nicht dadurch fördern werden, dass sie das Niveau der internen Rechtsvorschriften und Normen in den Bereichen Umweltschutz, Arbeitsrecht oder Gesundheitsschutz und Sicherheit am Arbeitsplatz senken oder die Kernarbeitsnormen oder die Politik und die Rechtsvorschriften zum Schutz und zur Förderung der kulturellen Vielfalt lockern.« Ein Wunschzettel, dessen Glaubwürdigkeit eher fraglich ist. Wenn es um Arbeitnehmerrechte geht, sind die USA ein denkbar schlechter Verhandlungspartner. Es droht eine massive Schwächung der Arbeitnehmerrechte sowie eine massive Entwertung der wichtigsten Standards der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), die in acht Kernnormen verfasst sind.

Denn davon haben die USA haben im Unterschied zur EU sechs nicht ratifiziert: Die Koalitionsfreiheit, also auch das Recht der Beschäftigten, sich frei zu organisieren, etwa in Gewerkschaften, das Recht auf kollektiv verhandelte Tarifverträge, die Abschaffung der Zwangs- und Pflichtarbeit allgemein, vor allem wegen des Einsatzes von Häftlingen für private Unternehmen, gleicher Lohn für gleiche Arbeit von Mann und Frau, das Mindestalter für den Eintritt in ein Arbeitsverhältnis un das Verbot der Diskriminierung in der Arbeitswelt wegen Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Religion, politischer Meinung, nationaler und sozialer Herkunft.

Lediglich zwei ILO-Normen wurden ratifiziert: Die Abschaffung der Zwangsarbeit als Disziplinarmaßnahme sowie die Abschaffung der schlimmsten Formen der Kinderarbeit, wobei nicht Kinderarbeit überhaupt verboten wird, sondern nur die Beschäftigung von Kindern als Soldaten, Prostituierte, im Drogenhandel und in der Pornografie. Niemand erwartet wohl ernsthaft von der Obama-Regierung, dass sie da wegen TTIP »nachbessern« oder die USA gar ihr Verhältnis zu Gewerkschaften und Mitbestimmung grundlegend verändern werden.

In einem Bericht von 2012 über die jährliche Übersicht über die Verletzung von Gewerkschaftsrechten beschreibt der Internationale Gewerkschaftsbund die aktuelle Situation in den USA trefflich: »Die Arbeitgeber sind in den Vereinigten Staaten extrem gewerkschaftsfeindlich, und da sie über erheblichen Spielraum verfügen, um gewerkschaftliche Organisierungsbemühungen zu vereiteln, und die Strafen im Falle gesetzwidriger Repressalien gegen Gewerkschaftssympathisanten unzureichend sind, stoßen die Beschäftigten auf enorme Schwierigkeiten, wenn sie Gewerkschaften gründen wollen. (...) die Abschaffung oder Beschneidung des Rechtes auf Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst (steht) ganz oben auf der Agenda konservativer Republikaner, die gegenwärtig das US-Repräsentantenhaus und die Mehrheit der bundesstaatlichen Legislativen und Gouverneursämter kontrollieren.«

Verstärkt wird dies durch die neuen sog. »Right-to-work« Gesetze. Aktuell haben die Hälfte der US-Bundesstaaten solche Gesetze beschlossen und eingeführt, die nicht nur Gewerkschaftsrechte massiv einschränken sondern letztlich auf die faktische Zerstörung der Gewerkschaften zielen. Unternehmen aus Europa lagern seit Jahren verstärkt Produktionsstätten in US-Staaten aus, die für ihre Gewerkschaftsfeindlichkeit berüchtigt sind (BMW - Alabama). Eben diese zunehmenden »Right-to-Work-Staaten« sind nun ein vortreffliches Investitionsziel, um von Tarif- und Mitbestimmungsfreiheit zu profitieren.

Innerhalb eines neuen transatlantischen Abkommens paaren sich diese Interessen beiderseits des Atlantik genial mit europäischen Unternehmensinteressen, die immer stärker auf geringere Lohnkosten zur Steigerung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit drängen.

Bereits jetzt sind in 18 von 28 Mitgliedstaaten der EU massive Einschränkungen individueller und kollektiver Arbeitsrechte zu verzeichnen. Bei den sog. »Rettungsmaßnahmen« für Griechenland, Spanien, Italien und Portugal lässt die EU zusammen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der EZB mit klaren Rechtsbrüchen Menschenrechtsnormen außer Kraft setzen, Tarifverträge auflösen, die Verlagerung der Lohnverhandlungen auf die betriebliche Ebene verordnen, Lohnsenkungen erzwingen und Streiks erschweren. In allen Mitgliedsstaaten wurde die Tarifbindung zurückgedrängt. Alleine in Portugal ist durch erzwungene Anpassungen die Zahl der von Tarifverträgen geschützten Beschäftigten von über 1,5 Millionen Beschäftigten (2010) auf 300.000 ArbeitnehmerInnen (2012) zurückgegangen. Die sonst so sakrosankten Europäischen Verträge waren an dieser Stelle keinen Pfifferling wert. Warum sollten sie es also an anderer Stelle sein, wo es doch um so »Großes« geht.

Dennoch: das ist nicht nur der Troika-Politik geschuldet. Massiv drücken die in Europa operierenden Unternehmen und Konzerne auf die Senkung der Arbeits- und Sozialkonditionen in den jeweiligen Mitgliedsstaaten. Und was dort nicht durchsetzbar erscheint, versucht man über Brüssel. »Die Regierungen der Mitgliedsstaaten hintertreiben ihre eigene Sozialstaatlichkeit über die Brüsseler Hinterzimmer« formulierte der renommierte deutsche Verfassungsrechtler Andreas Fischer-Lescano. Und zwar systematisch und mit klaren strategischen Zielsetzungen.

Bereits vor zwei Jahren hat die Europäische Kommission durch ihre Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen eine Studie vorgelegt, die sich wie ein Handbuch des Neoliberalismus liest. Einzig der Abbau sozialer Rechte und der arbeitsrechtlichen Bestimmungen sei der richtige Weg, um Beschäftigung zu fördern und Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Die Studie belegt, dass im Windschatten von Krise und neoliberalen 'Reformen' eine Offensive gegen die Rechte der ArbeitnehmerInnen in der EU geführt wird und die EU-Kommission Regie führt.

In der Studie unter dem Titel »Labour Market Developments in Europe 2012« werden die Arbeitsmarktreformen der letzten Jahre in der EU referiert. Besonders die Demontage von Arbeitsschutzbestimmungen und der Systeme der Lohnfindung sollte zu mehr Wachstum führen und Arbeitsplätze schaffen. Leistungen bei Arbeitslosigkeit sollen weniger »großzügig« sein, die Anspruchsberechtigung soll »strenger geregelt« werden. Auch bei Pensionen und Renten soll die »Großzügigkeit« zurückgeschraubt, die Anspruchsberechtigung strikter geregelt und der Kündigungsschutz aufgeweicht werden. Gesetzliche Mindestlöhne sollen reduziert und ein »weniger zentralisiertes« Lohnverhandlungssystem durchgesetzt werden. Die Studie legt offen, worauf abgezielt wird: auf die »Verringerung der gewerkschaftlichen […] Macht.«

Das scheint die Blaupause nicht nur für die bisherige Politik gewesen zu sein. Warum sollten die Konzepte – bei den »Erfolgen« – nicht in TTIP fortgesetzt werden? Geht es doch um die Steigerung der Konkurrenzfähigkeit von USA und Europa gegenüber allen anderen anderen Wirtschaftsregionen auf dieser Erde. TTIP wird zum Anlass, die Beschäftigungskonditionen weiter zu senken. Einen Beleg dafür liefert die Anhörung im Wirtschaftsausschuss des Europaparlaments zu »TTIP und Finanzmarkt-Regulierung” im März 2014. Edward Bowles von der Europe Standard Chartered Bank und Mitglied des TTIP-Beraterstabes der Europäischen Kommission formuliert in schöner Klarheit einen wesentlichen strategischen Zweck von TTIP: «Es wird für die EU und USA wohl die letzte Chance sein, einen operativen Rahmen für den Handel fest zusetzen, bevor die Schwellenländer in Asien, Afrika, Indien und Nahen Osten eine stärkere Rolle und mehr Einfluss in der Weltwirtschaft gewinnen.” Der Begriff »Wirtschafts-NATO« ist also wohl keine Übertreibung. Auf dem Rücken der Beschäftigten. Hier und weltweit.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Online-Ausgabe der sozialistischen Tageszeitung Neues Deutschland vom 02. April 2014