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25.02.2016, Thomas Händel

Die Sparpolitik der Troika, ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“

Studien aus Irland, Rumänien, Portugal und Griechenland zeigen, welche Folgen die Aushebelung des Tarifrechts hatte

Um ihre Austeritäts-Politik in den sogenannten Krisenstaaten Südeuropas durchzusetzen, hat die EU-Troika seit 2008 Unionsrecht gebeugt oder gebrochen. Die Folgen: Grundrechtsverletzungen in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen, insbesondere der Berufs- und Tariffreiheit. Beispiel Portugal: Während eine zwischenzeitlich die Troika-Forderungen exekutierende Mitte-Rechts-Regierung mit ihrem Spar- und Kürzungsprogramm sogar noch weiterging, stufte das portugiesische Verfassungsgericht die von Vertretern ohne Gewerkschaftsmandat ausgehandelten Tarifergebnisse als verfassungswidrig ein; die Beschlüsse wurden nicht umgesetzt.

Alles in allem erfüllt die Sparpolitik der Troika den Tatbestand des „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“. – Zu diesem Schluss kam bereits ein Anfang 2015 veröffentlichtes Rechtsgutachten der Universität Bremen; erstellt hatte es Prof. Andreas Fischer-Lescano im Auftrag der „Kammer für Arbeiter/innen und Angestellte für Wien“.

Eine Reihe von Untersuchungen konzentrierte sich auf die Aushöhlung und Aushebelung des Tarifrechts im Zuge des Spardiktats in Portugal und Griechenland sowie in Irland und Rumänien. Wissenschaftler stellten die Ergebnisse nun in Brüssel, bei einem Workshop im Beschäftigungs- und Sozialausschuss EMPL, vor.

Dass in ganz Europa der Einfluss der Gewerkschaften seit Ende der 1990er-Jahre zurückgeht, wie es Eurofound-Referent Ricardo Rodriguez Contreras feststellt, ist ein alarmierendes Signal. "Der Trend zur Dezentralisierung bei Tarifverhandlungen ist ein Fakt und setzt sich fort." Indes mag der Rückgang des Deckungsgrades von Tarifverträgen in diesem Zeitraum von 68 auf 61 Prozent als geradezu harmloser Wert erscheinen, wenn man weiß, was hinter solchen Zahlen steckt: Arbeitslosigkeit und Armut, Elend und Leid, ausgelöst durch Deregulierung und Privatisierung; durch umfassende Absenkung von Mindestlöhnen, weitgehende Eingriffe in die Pensionssysteme; durch Urlaubsstopp und Lohnkürzungen durch unbezahlten Zwangsurlaub; Streichung von Gehältern, Kürzungen bei Arbeitslosengeld und Renten; durch Absenkung von Kündigungsvorschriften und der Aushöhlung nationaler Tarifvertragssysteme durch die Einführung zeitlicher, räumlicher und personeller Beschränkungen im Hinblick auf die Gestaltung von Tarifverträgen.

Einen öffentlichen Aufschrei hat es in Deutschland seit 2008 deswegen nie gegeben. Und mittlerweile drohen die Folgen der auch von der Bundesregierung stets unterstützten Austeritäts-Politik in Vergessenheit zu geraten. Umso wichtiger ist deren gründliche Aufarbeitung.

Ein bitter-ironisches Fazit könnte so lauten: Wenn es nach dem Willen der Troika geht, können Gewerkschaften Tarifverträge nur noch abschließen am 29. Februar zwischen 24 und 0 Uhr. Die vorgestellten Studien dürften noch nicht das Endergebnis einer desaströsen Entwicklung aufzeigen. Die Lohnentwicklung in den einzelnen Ländern wirkt nach. In Griechenland wurden von 2011 bis 2014 rund 1.100 Tarifverträgen abgeschlossen. 70 Prozent davon wurden von nichtgewerkschaftlichen Interessenvertretern vereinbart. 98,5 Prozent dieser 1.100 Tarifverträge verfügten Lohnkürzungen und Lohnstopps. Künftige Studien werden aller Voraussicht nach ein noch düstereres Bild von der sozialen Lage und der Lohnentwicklung aufzeigen. Man muss sich bewusst machen, dass dieser Abwärtstrend nicht an den Grenzen der sogenannten Krisenländer Halt machen wird.

Portugal: Maria da Paz Campos Lima, leitende Wissenschaftlerin an der Universität in Lissabon, zeigte am Beispiel Portugal das Ausmaß sozialer Verwerfungen infolge der Einflussnahme der Troika an. Unter dem Codewort "Memorandum of understanding" intervenierten EU-Kommission, Internationaler Währungsfonds und Europäische Zentralbank in Portugals nationale Politik und mischten sich ein in die Aushandlung von Tarifverträgen und der Festsetzung von Löhnen. Gehälter und Löhne im öffentlichen Dienst wurden nicht nur eingefroren. Alle Monatseinkommen über 1.500 Euro wurden von der Regierung nominal gekürzt, die Arbeitszeit von 35 auf 40 Wochenstunden erhöht.

Die Gewerkschaften wurden systematisch geschwächt. Portugal ist das Land mit der niedrigsten Organisationsstruktur: In nur acht Prozent der Unternehmen gibt es Gewerkschaftsvertreter. Die Anzahl von Arbeitnehmern ist dramatisch gesunken: 2009 waren es noch 1,4 Millionen, 2014 nur noch 200.000.

Die aktuelle linke Regierung versucht sich seit November 2015 an behutsamen Korrekturen. Der Mindestlohn wurde von 485 auf 505 Euro erhöht, die 35-Stunden-Woche soll wieder eingeführt werden, auch freie Tarifverhandlungen zwischen den Sozialpartnern sollen wieder möglich sein.

Rumänien. Das Land bezog infolge der Krise rund 20 Milliarden Euro aus Mitteln der EU, deutlich weniger als andere sogenannte Krisenstaaten, wie Aurora Trif, Dozentin an City University Business School in Dublin über die Lage in Rumänien berichtete. Die Sparmaßnahmen waren drastisch: Lohnkürzungen bis zu 25 Prozent, zehn Tage Zwangsurlaub, in den Sommermonaten eine Viertage-Woche, Abbau der Arbeitskräfte um 40 Prozent.

Die radikale Dezentralisierung und Reduzierung der Tarifverhandlungen führte dazu, dass es praktisch keine branchenübergreifende Tarifverhandlungen mehr gibt und Verträge nur noch auf Unternehmensebene ausgehandelt werden. Nur noch 15 Prozent der Tarifverträge wurden unter Beteiligung von Gewerkschaften ausgehandelt; Verträge, an denen Arbeitnehmer-Vertreter ohne Unterstützung einer Gewerkschaft mitverhandelten, erzielten Ergebnisse zum Nachteil der Arbeitnehmer. Vor 2010 war jeder Tarifvertrag gewerkschaftlich abgedeckt, 2013 nur noch ein Drittel 2013.

Weitere Folgen: Zersplitterung der Sozialpartnerschaft, Schwächung der Gewerkschaften (Gewerkschaften können kaum noch Mitglieder mobilisieren); Stärkung der Arbeitgeber (Arbeitnehmer, auch Gewerkschafter können leichter entlassen werden).

Für Erstaunen sorgte die Haltung der Troika in einem besonderen Fall: Die 2012 ins Amt gewählte Mitte-Links-Regierung vereinbarte mit dem größten Arbeitgeberverband und den Gewerkschaften eine Rückkehr zur Rechtssetzung der Arbeitszeitgesetze auf ILO-Standard. Doch die Troika entschied: Nein, es wird keine Anhebung der Standards geben.

Inzwischen, so Dozentin Aurora Trif, gibt es Signale der Arbeitgeber, die Arbeitnehmerrechte stärker berücksichtigen zu wollen. Rumänische Gewerkschaften erfahren Unterstützung aus Dänemark und Deutschland, sie seien jedoch auf finanzielle Unterstützung angewiesen.

Irland: Auch die Arbeitgeber müssten im Zuge des sozialen Dialogs geschützt werden, soll einst Winston Churchill gesagt haben: Geschützt vor den Böswilligen unter den Arbeitgebern. Peter Rigney, Industriesekretär des Irischen Gewerkschaftskongresses und früherer Präsident des Europäischen Zentrums für die Förderung der Berufsbildung (CEDEFOP), kommentierte die Einflussnahme der Troika in Irland von 2010 bis 2013 mit landestypischem schwarzem Humor.

Rigney wunderte sich etwa über die Arbeitsweise der Troika-Vertreter: Man stellt sich vor, dass die Fachleute mit Fachwissen ins Land kommen, um möglichst objektiv die Lage zu analysieren. Stattdessen, so Rigney, "gehen sie zu Menschen, die sie kennen oder sie wenden sich an Menschen, die ihre eigenen Ansichten teilen und sagen: Zeigen Sie uns, was Sie tun möchten, aber zurzeit im politischen Konsens nicht umzusetzen ist. Wir unterstützen Sie dabei!"

Was dabei herauskommt, wird an diesem Fall deutlich: Auf Druck der Troika sollte eine Gesetzesänderung  herbeigeführt werden, dass Arbeitgeber abweichen können von Sektorvorgaben. Rigney: Das kann vielleicht in einem Uni-Seminar funktionieren. Nicht aber im realen Wirtschaftswettbewerb. Dort passiert dann folgendes: Ihr Konkurrent wird Ihnen sagen: Halten Sie sich da mal nicht dran! Die Bank wird Ihnen sagen: Da machen wir nicht mit. Kein Arbeitgeber hat diese von der Troika vorgesehenen Ausnahmen genutzt. Das wäre wirtschaftspolitischer Selbstmord gewesen.

Ein inzwischen verstorbener Finanzminister, dessen Aufgabe es gewesen sei, die Banken zu beaufsichtigen, habe die Tarifpartner für die Krise im Land verantwortlich gemacht. Dabei stand am Anfang der Krise in Irland die Bankenkrise; jahrelang vertraute die Regierung auf die fehlerhaften Einschätzungen eines Finanzinstituts.

Griechenland: Aristea Kokiadiaki, Leitende Wissenschaftlerin der Universität Manchester, stellte eine von der EU-Kommission in Teilen mitfinanzierte Studie vor, was der Aussagekraft der Arbeit kaum einen Abbruch tat – die Fakten lassen sich kaum schönfärben. Die Troika kam 2010 mit dem Ziel ins Land, den Arbeitsmarkt flexibler und effizienter zu gestalten. Die Folgen des Eingriffs in die Tarifautonomie: Das System der branchenübergreifenden Tarifverhandlungen brach zusammen. Die Gewerkschaften wurden gezielt geschwächt, das Instrument der Schlichtung abgeschafft. Die Arbeitgeberverbände, obschon politisch schwach, drohten mit Lohnkürzungen oder klinkten sich aus Verhandlungen aus. Lohnkürzungen wurden per Einzelabsprache verfügt. Eine Abwärtsspirale bei den Löhnen begann, im Schnitt sanken die Löhne um 23 Prozent, bei jungen Arbeitnehmern um ein Drittel. Auch der Mindestlohn wurde gesenkt. Junge Arbeitnehmer und ältere über 55 wurden ausgegrenzt.

Mittlerweile sind auch die Arbeitgeber besorgt. Den nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmervertretern, so Dozentin Aristea Kokiadiaki, fehle oft die Fachkenntnisse: "Es besteht die Gefahr, dass der Arbeitsplatz politisiert wird." Die Arbeitgeber fürchteten angesichts dieser Entwicklung um ihre Wettbewerbsfähigkeit.

Entsprechend sind Gewerkschafter wie Arbeitgeber an der Wiederaufnahme des sozialen Dialogs interessiert. Die neue Regierung arbeitet daran, übrigens mit Unterstützung einer Monitoring Group des EMPL.