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12.12.2015, Von Thomas Händel

Junckers »Sozial-Pläne«

Was von den wirtschaftspolitischen Ankündigungen des EU-Kommissionschefs für das Jahr 2016 zu halten ist

2016 soll Europas »sozialstes Jahr seit langem« werden, so die EU- Kommission. Ihr Präsident, Jean-Claude Juncker, will das Prinzip »Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort« verankern, den Missbrauch des Entsende-Gesetzes beenden, soziale Mindeststandards formulieren, den Arbeitnehmerbegriff erstmalig konkret definieren und den Arbeits- und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz neu ordnen. Hat man solche Töne aus Brüssel schon einmal gehört? Kündigt sich da etwa eine Zeitenwende an?

Skepsis ist angebracht. Denn nahezu im gleichen Atemzug legten die Präsidenten von EU-Kommission, EU-Parlament, Rat und Euro-Gruppe sowie der Europäischen Zentralbank einen weitreichenden Strategieplan über den politischen und fiskalischen Ausbau der Wirtschafts- und Währungsunion vor. Mit aller Kraft soll die wirtschaftspolitische Steuerung Europas vorangetrieben werden - nicht aber deren demokratische Kontrolle.

 

Unzweifelhaft hat die Krise bewiesen: Eine Währungsunion nur mit dem Euro funktioniert nicht. Aber »der Bericht der fünf Präsidenten geht in die falsche Richtung und verschärft die Lage zusätzlich«, so etwa der Deutsche Gewerkschaftsbund.

Europa hat seinen Wettbewerbsvorsprung gegenüber anderen Weltregionen zum Teil eingebüßt. Die europäischen Kapitalfraktionen sehen damit ihre Interessen gefährdet und fordern entschiedene Maßnahmen zur Stärkung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Eines der Hauptmittel: die Senkung der Löhne.

Eine erste Maßnahme aus dem Fünf-Präsidenten-Plan ist da ganz stimmig: Jeder EU-Staat soll eine sogenannte unabhängige Stelle zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit (»competitiveness authority«) schaffen, die politische Empfehlungen auch für Tarifverhandlungen gibt. Die Gefahr: massive Eingriffe in die Tarifautonomie und erhöhter Druck auf die Löhne.

Griechenland lässt grüßen! Unternehmenstarifverträge mit Abweichungen vom Flächentarifvertrag, die massive Schwächung der Gewerkschaften etc. hatten verheerende soziale Wirkungen: 1100 neue, meist nicht-gewerkschaftliche Tarifverträge hatten zu 98,5 Prozent Lohnkürzungen und Lohnstopps zur Folge.

Neben Löhnen sollen auch andere hinderliche »Lasten« abgebaut werden. Populistisch wird über »bessere Rechtsetzung« schwadroniert, gegen die niemand etwas haben könnte, ginge es dabei nicht vor allem um Arbeits- und Sozialstandards.

Angesichts der sozialen Misere in etlichen Staaten Europas droht die EU das Vertrauen vieler Menschen zu verlieren. Juncker räumt ein, seine Kommission sei die »der letzten Chance«. Für einen kompletten Kurswechsel steht diese Kommission aber nicht. Vieles weist hin auf ein »Jetzt mit voller Kraft weiter« - angereichert mit etwas Sozial-Dressing.

Soziale Mindeststandards kann es aber nur auf hohem Niveau geben. Ob der neue Arbeitnehmerbegriff auch die neuen Tagelöhner, Crowd Worker, Digital Worker usw. umfasst bleibt offen. Der neue Arbeits- und Gesundheitsschutz könnte viele »bürokratische Hemmnisse« auf der Strecke lassen. Und der Grundsatz »Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort« sagt nichts darüber, ob der gleiche Lohn dann auch zum Leben reicht.

In den Ankündigungen liegt aber auch die Chance einer öffentlichen Debatte. Es genügt nicht, die üblichen einfachen Abwehrreflexe zu mobilisieren. Wenn die gesellschaftliche Linke auf EU-Ebene im kommenden Jahr eigene Konzepte ausformuliert, bestehende konsolidiert und auch massiv öffentlich propagiert, stehen die Chancen auf gesellschaftlichen Druck für ein anderes Europa nicht so schlecht. Die Menschen brauchen ein starkes »Bild« eines demokratischeren und sozialeren Europa - wenn nötig auch mit weniger Mitgliedsstaaten. Abwarten ist nicht!

Junckers Strategie ist seit 1999 hinlänglich bekannt: »Wir beschließen etwas, stellen das in den Raum und warten einige Zeit ab, ob was passiert. Wenn es kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, machen wir weiter - Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.«

2016 wird die EU-Kommission mit Empfehlungen und Absprachen Pflöcke einschlagen. 2017 sollen sie dann als Leitlinien künftiger europäischer Politik vertraglich fixiert werden. Zeit zu handeln ist also noch - aber nicht alle Zeit der Welt.

Dieser Artikel erschien am 10. Dezember 2015 im "Neuen Deutschland"