Menu X
05.03.2010, Frank Puskarev

Griechische Tragödien

Wie man sich Sündenböcke bastelt

Griechenland ist vor allem für seine Inseln und als Ferienparadies bekannt. Kulturbeflissenen gilt es auch als Ursprungsland großer Tragödien. Diese handeln von der schicksalhaften Verstrickung des Protagonisten. In ausweglose Lage geraten, kann er durch jedwedes Handeln nur schuldig werden. Der tragische Charakter wird mit dem Attribut »schuldlos schuldig« beschrieben.
Die griechische Tragödie erlebt derzeit eine Renaissance. Von »Bild« bis FAZ beschimpft man das Land an der Ägäis als Schurkenstaat, seine Bewohner als korrupt und verschwenderisch. Gipfelnd in einem Titelbild des Magazins »Focus«, welches die heilige Venus de Milos Europa den Stinkefinger zeigen lässt. Jedes Klischee scheint recht, die eigentlichen Ursachen für die hohe Verschuldung des Mittelmeeranrainers zu verschleiern.
Es scheint sich niemand daran zu stören, dass es gerade die im vergangenen Jahr abgelöste konservative Regierung war, die da ihre Spielchen trieb. Die Parteifreunde Merkels und Barrosos sind hauptverantwortlich für das Desaster, in dem Griechenland heute steckt. Die Bilanzdefizite und -schönungen sind bereits seit Einführung des Euro bekannt; sie haben niemanden gestört. Europäische Kommission und der Rat wussten von gefälschten Statistiken und haben sie toleriert. Große Investmentbanken wie Goldman Sachs halfen mit Milliardenverbriefungen bei diesem offensichtlichen, regierungsamtlichen Betrug. Doch zu sehr lockte die Ausweitung des europäischen Binnenmarktes. Mit massivem Druck aus Brüssel hat Athen so ziemlich alles, was nicht niet- und nagelfest war, privatisiert, unter anderem Elektrizitäts- und Telekommunikationsbetriebe. Griechenland habe »die zweitbeste Performance aller Industrieländer«, so die OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) noch vor zwei Jahren, die »Etatkonsolidierung komme voran«.
Unter normalen Umständen würde Griechenlands Staatsdefizit demnach keinen Bankrott produzieren. Auch an »Ausgabenschluderei« kann es nicht wirklich liegen: Gemessen am Bruttoinlandsprodukt gab der griechische Staat bis zum Beginn der Finanzkrise 2007 prozentual weniger Geld aus als der deutsche. Und dennoch: Trotz deutlich sinkender Staatsquote in den vergangenen zehn Jahren blieb das Defizit hoch. Denn dem griechischen Staat wurden zugleich Einnahmen vorenthalten: Die EU-Kommission, die sich jetzt so entrüstet, hat jahrelang sinkende Steuern gefordert – und von der neoliberalen ehemaligen Mitte-Rechts-Regierung bekommen.
Zweifellos: Steuerhinterziehung und Korruption sind in Griechenland weit verbreitet. Dies ist aber nur ein gradueller Unterschied zu anderen europäischen Ländern – siehe die Steuerdaten-CDs, welche von deutschen Behörden jüngst aufgekauft wurden. Wesentlich für die hohe Staatsverschuldung dürfte vielmehr sein, dass das kleine Griechenland sich im Vergleich zu Deutschland einen prozentual dreifach höheren Militärhaushalt leistet. Rund ein Drittel der Reichen zahlt keinerlei Steuern, Steuerflucht durch »Offshoring« (Auslandsverlagerung) ist exorbitant. Zudem knabbert die Volkswirtschaft bis heute an den Kosten der Olympischen Spiele in Athen im Jahre 2004.
Seit geraumer Zeit ist das Land Ziel verheerender Spekulationen der Finanzmärkte: CDS-Papiere, also Wetten der Finanzindustrie auf den Staatsbankrott, haben ein Vielfaches des griechischen Bruttoinlandsproduktes an Wert akkumuliert, was angesichts des scheinbar extrem hohen Risikos neue Kreditaufnahmen für Griechenland unbezahlbar werden lässt. Das Finanzkapital spekuliert auf den Zusammenbruch des griechischen Gemeinwesens und produziert ihn gleich selbst. Das ist eine neue Qualität des Casino-Kapitalismus.
Alle Welt schreit jetzt nach Sparorgien. Die Griechen hätten Jahrzehnte über ihre Verhältnisse gelebt; Kürzungen von Löhnen und Sozialleistungen müssten her. Abgesehen davon, dass einem diese Argumentation bekannt vorkommen dürfte, ist es nur wenig verwunderlich, denn in Griechenland war der europäische Sozialkahlschlag der letzten Jahre bisher nicht durchsetzbar. Mit gutem Grund: Griechenlands Exporte stiegen seit 1993 um real 150 Prozent, die Beschäftigung stieg in den letzten zehn Jahren jährlich um 1,3 Prozent, die Arbeitslosigkeit fiel um 40 Prozent. Die Mär von »überteuerten Lohnabschlüssen« hält also nicht mal einer oberflächlichen Betrachtung stand. Und dennoch konnte Griechenland in puncto Wettbewerbsfähigkeit nicht standhalten. Mitnichten ist dies griechisches Versagen. Diese Entwicklung hat eher Ursachen, die im Kahlschlag der Sozialsysteme, unter anderem in Deutschland, und dessen daraus resultierenden Exportüberschüssen zu suchen sind.
Die Erhöhung des Rentenalters, Lohnkürzung und Verlängerung der Arbeitszeit scheiterten am Widerstand der griechischen Gewerkschaften. Zu Recht. Den europäischen Eliten ist dies schon lange ein Dorn im Auge. Umso mehr erfreut es nun offensichtlich, endlich und im Windschatten einer angeblichen Gefährdung des Euroraumes ein Instrument gefunden zu haben, die widerständigen Griechen zu disziplinieren.
Die Vorschläge zur Konsolidierung Griechenlands laufen nach bewährten Mustern. Wenn es für alle nicht mehr reicht, muss man es eben von den Armen nehmen. Jetzt ist europäische Solidarität gefragt – mit den Menschen in Griechenland. Sie sollen nicht für Spekulationen, Misswirtschaft und neoliberale Exzesse die Zeche zahlen. Es geht eben nicht um einen Fehler Griechenlands, sondern um einen Fehler im System.
Richtig ist: Griechenland muss wie alle europäischen Länder Korruption und Steuerhinterziehung in den Griff bekommen. Aber Europa muss endlich die Finanzmärkte sinnvoll regulieren und gefährliche Finanzprodukte verbieten. Eine europäische Wirtschaftsregierung zur Koordinierung der Politiken in den Mitgliedsstaaten und ein europäischer Währungsfonds, der im Ernstfall Kreditausfälle der Mitgliedsstaaten verbürgt, wären sinnvolle Konsequenzen. Wenn dann noch die Nachfrage in Griechenland durch gezielte Konjunkturhilfen angekurbelt würde, könnten die Schlagzeilen über Griechenland wieder mehrheitlich mit Sonne und Freizeit verbunden sein.
Thomas Händel ist Europaabgeordneter, Frank Puskarev sein Mitarbeiter.