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28.12.2012

Entleerte Versprechen

20 Jahre alt ist er nun, der europäische Binnenmarkt. Zweifellos: Er hat Einiges vorzuweisen. Zumindest rückblickend betrachtet. Ökonomisch wurden viele Ziele erreicht, der Lebensstandard gesteigert, die »Wettbewerbsfähigkeit« im globalen Kontext gestärkt. Aber um welchen Preis?

Vier Grundfreiheiten - Waren-, Dienstleistungs-, Personen- und Kapitalfreiheiten - sollten die Wirtschaft prosperieren lassen und den Wohlstand zum Nutze aller mehren. Das »zum Nutzen aller« wirkt allerdings zunehmend schal. Zwar gingen die Wachstumszahlen stetig nach oben, der Wohlstand wuchs. In der weiteren Entwicklung dieses Binnenmarktes wurde allerdings ein altes Prinzip immer deutlicher: Der Markt ist eben doch nicht (dauerhaft) in der Lage, soziale Gerechtigkeit quasi automatisch herzustellen. Den prophezeiten Wohlstand gibt es für immer weniger Menschen in der EU. Die gepriesene Sozialstaatlichkeit wird von Eliten und Regierungen immer stärker bekämpft, verbreitete Armut kehrt zurück. Immer mehr Menschen können von ihrer Arbeit nicht menschenwürdig leben - und zwar nicht erst seit Ausbruch der Krise.

Ein Binnenmarkt, der stetig zu Lasten der Mehrheit der Menschen in Europa die Vermögen einiger weniger mehrt, wird auf Dauer jegliche Legitimation in der Bevölkerung verlieren. Die Auswirkungen eines auf maximale Wettbewerbsfähigkeit zielenden kapitalistischen Binnenmarktes sind derzeit in den sogenannten PIIGS-Staaten (Portugal, Italien, Irland, Griechenland, Spanien) zu beobachten. Rasant steigende Arbeitslosigkeit, harte Umklammerung durch die Finanzmärkte, exorbitante Zinsen auf Staatsanleihen und die Vergesellschaftung der Kosten der kriminellen Spekulationen einiger Weniger an den Finanzmärkten bei gleichzeitiger Privatisierung der Gewinne lassen immer mehr Menschen am europäischen Projekt zweifeln. Die wachsende Zustimmung für nationalistische und antieuropäische Positionen zeigt, welche Gefahren drohen.

Die Akzeptanz der EU durch die Menschen hängt davon ab, ob wir künftig entscheiden können wie wir in Europa leben und arbeiten wollen. Eine wesentliche Rolle spielen dabei die europäischen Gewerkschaften. Gerade in einer Phase, in der das europäische Projekt auf dem gesellschaftlichen Prüfstand steht, braucht es eine starke, europäische und grenzüberschreitend solidarische Stimme, die das neoliberale Binnenmarktmodell in Frage stellt und auch vor harten Auseinandersetzungen nicht zurückschreckt. Der beschworene »Kurswechsel in Europa« kommt nicht von allein.

Notwendig ist dazu die Ausformulierung eines überzeugenden Konzepts einer demokratisch kontrollierten wirtschaftlichen Zukunftsentwicklung für Europa. Dazu gehört eine auf Beschäftigung und Soziales verpflichtete Industrie- und Dienstleistungspolitik sowie eine Struktur- und Kohäsionspolitik, die die Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse zum Ziel hat. Gute Arbeit, hohe soziale Sicherheit und nachhaltige ökologische und ökonomische Entwicklung bilden den Kern eines linken europäischen Zukunftsmodells. Zu dessen Realisierung braucht es andere gesellschaftliche, schlussendlich politische und parlamentarische Mehrheiten. Und mehr europäische Demokratie. Nur mit starken Initiativ- und Kontrollrechten des EU-Parlaments, klarer Kompetenzverteilung zwischen nationaler und europäischer Volksvertretung, einer Kontrollfunktion des Wirtschafts- und Sozialausschusses sowie des Ausschusses der Regionen und von nationalen Egoismen weitgehend befreiten Legislativen und Exekutiven wäre ein solches Konzept nachhaltig.

Dafür braucht es einen langen Atem. Atmen Sie also an diesen Feiertagen tief durch und starten Sie gut ins neue Jahr!

Dieser Artikel erschien zuerst am 28. Dezember 2012  in der sozialistischen Tageszeitung Neues Deutschland.