Menu X
30.04.2013, Thomas Händel

Europäische Beschäftigungspolitik: Schöne Überschriften statt Gute Arbeit

Für ein überzeugendes Konzept für ein Europa der Solidarität, der sozialen Integration mit dem Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse in ganz Europa

Die „wettbewerbsfähigste wissensbasierte Ökonomie der Welt“ mit „mehr und besseren Arbeitsplätzen und gestärktem sozialen Zusammenhalt“ sollte die EU werden. Von „Vollbeschäftigung“ und „deutlichen Fortschritten bei der Überwindung von Armut und sozialer Ausgrenzung“ war im Zusammenhang mit der Lissabon-Strategie bis 2010 die Rede. Die EU 2020 Strategie setzt diese Leitlinie lediglich mit einem neuen Wording fort. Zunächst klingen die Kernziele dieser Strategie durchaus vernünftig: bis 2020 wolle man eine Beschäftigungsquote von 75 Prozent der Bevölkerung im erwerbstätigen Alter (d. h. zwischen 20 und 64 Jahren) erreichen, weniger als 10 Prozent Schulabbrecher, mindestens 40 Prozent der 30 - 40-Jährigen mit tertiärem Bildungsabschluss und die Zahl der von Armut und sozialer Ausgrenzung bedrohten oder betroffenen Personen um mindestens 20 Millionen senken.

Angesichts der von der EU-Kommission nicht nur mitgetragenen Verwüstungen der Sparpolitik insbesondere in Südeuropa schien es 2012 offensichtlich geraten eine Reihe von Maßnahmen zu formulieren, um der hohen Arbeitslosigkeit in Europa zu begegnen. Das so genannte „Beschäftigungspaket“ hat folgende Zielsetzungen: „die Förderung der Schaffung von Arbeitsplätzen, (...) die Wiederherstellung der Dynamik der Arbeitsmärkte , die „stärkere Steuerung der Beschäftigungspolitik. Engere Überwachung der beschäftigungspolitischen Maßnahmen zusammen mit den EU-Mitgliedstaaten, damit beschäftigungs- und sozialpolitische Erwägungen nicht hinter den wirtschaftspolitischen zurückstehen“ klingt auf den ersten Blick ganz nett.

Die Ergebnisse sind allerdings mehr wie ernüchternd. Die EU-Beschäftigungsquote in den 27 Mitgliedstaaten ist von 71,6 Prozent (2009) auf 70,1 Prozent (2011) gesunken und wird mit der Vernichtung von Arbeitsplätzen per Austeritätspolitik noch weiter sinken. In keinem Mitgliedsstaat erreicht die Quote der in Normalarbeit unbefristet Beschäftigten noch die Hälfte der Arbeitsverhältnisse insgesamt.

Atypische - meist prekäre und schlecht bezahlte - Arbeit ist europaweit zwischen1990 und 2010 um 80 Prozent (sic!) gestiegen. Spitzenwerte beim Anteil an allen Beschäftigten erreichen die Niederlande (44 Prozent) sowie Deutschland und Dänemark (28 Prozent). Gleichzeitig ist das Lohnniveau drastisch gesunken. Allein in Deutschland arbeiten 24 Prozent der Beschäftigten zu Stundenlöhnen unter 9,15 Euro und damit unter der international definierten Armutsgrenze. Erst bei 9,81 Euro und einer 38 Std.-Woche wäre die OECD-Armutsgrenze von 60 Prozent des nationalen Durchschnittseinkommens erreicht. Es ist also davon auszugehen, dass fast ein Drittel der Beschäftigten unter oder nahe an der Armutsgrenze arbeiten. Von den rund 503 Mill. Einwohnern der EU (2012) sind 119,5 Mill. arm oder armutsgefährdet. 26,9 Prozent davon sind Kinder und 19,8 Prozent ältere Menschen. Jugendarbeitslosigkeit erreicht in ganz Europa fast 24 Prozent mit Spitzenwerten in Griechenland und Spanien bei rund 50 Prozent. Diese Gesamtbilanz ist eine Bankrotterklärung des viel zitierten – und eigentlich nicht wirklich existenten – europäischen Sozialmodells.

Die realen Leitlinien der Europäischen Beschäftigungspolitik sind, jenseits der wohlklingenden Überschriften, nichts anderes als Haushaltskonsolidierung und Defizitabbau, Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit und Begrenzung der Lohn- und Lohnnebenkosten – immer öfter auf dem Umweg über Brüsseler Hinterzimmer. „Die Nationalstaaten unterminieren ihre eigene Sozialstaatlichkeit über

Ministerrat und Kommission“ formulierte der renommierte Verfassungsrechtler Andreas Fischer-Lescano auf einer DGB-Europa-Konferenz im letzten Herbst. Und EU Beschäftigungskommissar Laszlo Andor ist ganz bei Merkel: „Hauptsache Arbeit, gleich zu welchen Bedingungen“ sei das Hauptziel der Kommission.

Quer durch Europa scheint ein stillschweigender Konsens der Machteliten zu regieren: ein Teil der Bevölkerung wird für die Ökonomie schlicht nicht mehr benötigt. Diesem Bild folgt die EU-Beschäftigungspolitik ganz offenkundig:

  • Die wirtschaftlich „Nützlichen" werden gesucht und umsorgt – weltweit,
  • „Brauchbare“ aus der EU sollen mit dem "Abbau von Bestandschutz-Maßnahmen" flexibel dahin bewegt werden, wo sie benötigt werden,
  • Die aus dem Arbeitsmarkt "herausgefallenen" sollen in prekären Beschäftigungsverhältnissen irgendwie beschäftigt werden, und
  • die ökonomisch „Überflüssigen“ sollen möglichst kostengünstig "verwahrt" werden.

Derer Beispiele sind zahlreich: Mit aktuellen Gesetzgebungsverfahren soll versucht werden (brauchbare) Saisonarbeiter aus Drittstaaten anzuwerben – natürlich allerhöchstens zu Mindestarbeitsbedingungen. Per Konzernleihe aus Drittstaaten sollen (nützliche) Hochqualifizierte aus Drittstaaten angeworben werden, die man in einem Mitgliedstaat mit „günstigen“ Arbeitsbedingung einstellt und nach kurzer Zeit europaweit verleiht – zu den Arbeitsbedingungen des Erstaufnahme-Staates. Statt die EU-Entsende-Richtlinie endlich auf den Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ umzustellen soll die Umgehung durch Scheinselbständigkeit weitergehen.

Jugendliche (brauchbare) Arbeitslose werden aus Krisenstaaten mit EU-Fördermitteln abgeworben, was dem Einzelnen zwar hilft, nicht aber den Heimatländern beim Wiederaufbau ihrer Ökonomie. Weitere Initiativen der EU-Kommission zu Lohndumping (z.B. bei den Bodenverkehrsdiensten an Flughäfen) und Arbeitszeitflexibilisierung bzw. –verlängerung bei einzelnen Berufsgruppen ( z.B bei Piloten) runden das aktuelle Bild ab.

Dazu kommen Verabredungen unter den Mitgliedstaaten (die so genannte Methode der offenen Koordinierung) unter anderem zur weiteren Erhöhung des Renteneintrittsalters über 67 hinaus. Die bekannten Pläne für die neue europäische Arbeitszeitrichtlinie, die Blockade einer sozialen Fortschrittsklausel und die Verwüstungen bei Arbeiter- und Gewerkschaftsrechten quer durch Europa zeigen, dass soziale Errungenschaften und Arbeitnehmerrechte in der EU immer stärker einplaniert werden sollen. Die gute Idee eines sozialen Europa verkommt im Interesse des Kapitals und der profitierenden Eliten.

Dennoch: selbst unter herrschenden Mehrheitsverhältnissen ist die Formulierung von Alternativen in Europa nicht völlig chancenlos. Im Beschäftigungsausschuss des Europäischen Parlaments konnten wir eine Mehrheit für Positionen organisieren, die konträr zur neoliberalen Politik von EU-Kommission und der Mehrheit der nationalen Regierungen im Rat steht: „Soziale Mindeststandards um soziale Ungleichheiten zu stoppen, der Respekt der Autonomie der Sozialpartner, Existenz sichernde Löhne mit Mindesteinkommen, die Armut trotz Arbeit verhindern (...) Soziale Grundsicherung um Zugang zu grundlegenden Gesundheitsdiensten und Existenzsicherheit zu gewährleisten,“ und die Forderung nach „Einführung eines sozialen Protokolls zum Schutz grundlegender Sozial- und Arbeitsrechte“ zeigen, das etwas möglich ist.

Die Mehrheit im Beschäftigungsausschuss will „den Teufelskreis von Sparmaßnahmen und Rezession beenden, (...) gleichen Lohn und gleiche Rechte für gleichwertige Arbeit für alle, (...) entsandte Arbeitnehmer ordnungsgemäß bezahlt und nicht für unfairen Wettbewerb benutzt“ wissen und „ein stabiles Niveau der Binnenkaufkraft, einen angemessenen Beitrag zu Wohlfahrtsstaat und sozialen Sicherungssystemen, die nur mit hoher Qualität Beschäftigung, menschenwürdigen existenzsichernden Löhnen und einer gerechten Lastenverteilung“ sichern kann. “Löhne und Renten sind keine ökonomische Variable, sondern sind das Einkommen, das die Menschen zum Leben brauchen".

Das ist ein guter Anfang! Für einen Ausbau dessen brauchen wir aber andere Mehrheiten - im EU-Parlament und in den nationalen Parlamenten, nicht zuletzt in der Gesellschaft. Um diese zu erreichen braucht die Linke ein überzeugendes Konzept für ein Europa der Solidarität, der sozialen Integration mit dem Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse in ganz Europa. Kernpunkte einer solchen Konzeption wären

  • Ein europäisches Leitbild von Guter Arbeit – von der man eigenständig, armutsfrei und unbefristet leben kann
  • Eine neuer Anlauf in Sachen Arbeitszeit – mit Arbeitszeitverkürzung und gerechter Verteilung der Arbeit zugunsten derjenigen, die bisher unfreiwillig zu wenig haben.
  • Eine neue Industriepolitik die - demokratisch kontrolliert - die Schaffung von neuer Arbeit insbesondere in "abgehängten" Regionen und Staaten zum Ziel hat.

Dieser Artikel erschien zuerst im Essener Morgen, der Zeitung der Essener LINKEN.