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23.10.2015, Thomas Händel

Es droht ein Eingriff in die Tarifautonomie

Die EU-Kommission will die Wettbewerbsfähigkeit fördern – durch erhöhten Lohndruck

Die EU-Kommission will künftig massiven Einfluss auf die Lohn-Entwicklung in Europa nehmen. Dies sieht ein Vorschlag der EU-Kommission für einen Beschluss des Rates vor. Der Plan: Jeder Euro-Mitgliedsstaat soll künftig eine sog. unabhängige nationale Stelle zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit („competitiveness authority“) schaffen. Diese Wettbewerbs-Räte sollen politische Empfehlungen geben und etwa bei Tarifverhandlungen die Linie vorgeben.

Die Folge: ein schwerwiegender Eingriff in die Tarifautonomie, erhöhter Druck auf die Löhne, ein Freibrief für die Regierungen der Mitgliedsstaaten für deren neoliberale Sparpolitik und eine Lohnspirale nach unten, auf Kosten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

Die Einrichtung von nationalen Stellen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit ist Teil des im Juni beschlossenen Fünf-Präsidenten-Berichts zur Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion (siehe Stichwort unten). Die in den europäischen Krisen-Staaten durchexerzierten und bereits im „Mechanismus gegen Makroökonomische Ungleichgewichte“ enthaltenen Eingriffe in die Tarifautonomie sollen für die gesamte Eurozone institutionalisiert werden.

Die künftigen unabhängig agierenden nationalen Wettbewerbs-Räte sollen alle Faktoren zur Preis- und Qualitätsentwicklung von Gütern und Dienstleistungen in den Euro-Ländern überwachen und mit jenen der globalen Wettbewerbern vergleichen. Sie sollen auch beurteilen, ob die Löhne sich entsprechend der Produktivität entwickeln.

Die Stellungnahmen der Wettbewerbs-Räte soll bei Tarifverhandlungen den Sozialpartnern als Richtschnur vorgegeben werden. Mit diesem nur notdürftig kaschierten Eingriff in die Tarif-Autonomie wird in der Konsequenz jeweils das Land mit der jeweils schlechtesten Lohnentwicklung zum Maßstab der Lohnpolitik – immer im Geist der internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Damit würde Lohndumping zum offiziellen Bestandteil europäischer Politik.

Hintergrund:

  • Die EU-Kommission fordert seit langem eine Lohnentwicklung „gemäß der Produktivität“. Sie meint aber die betriebliche Produktivität (nicht die gesamtwirtschaftliche) müsse bei den Lohnverhandlungen im Mittelpunkt stehen. Das führt – wie in Griechenland bewiesen – zu einer völligen Aushöhlung von Flächentarif-Verträgen.
  • Die Verbetrieblichung der Lohnverhandlungen führt aber auch zu einer massiv verschärften Lohn- bzw. Kostenkonkurrenz auf der Ebene der jeweiligen nationalen Volkswirtschaften. Die Konkurrenz der Betriebe auf nationaler Ebene muss aber über bessere Produkte und Dienstleistungen stattfinden und nicht über die niedrigsten Löhne.
  • Nominallöhne müssen aber nicht nur mit der gesamtwirtschaftlichen Produktivität steigen. Sie müssen an die Preisentwicklung angepasst werden. Sonst koppeln sich Lohn- und Gewinneinkommen durch unterschiedliche Berücksichtigung der Inflation voneinander ab.
  • Eine Umverteilung zu Gunsten der Beschäftigten kennt die Kommission übrigens gar nicht. Der Anteil der Lohneinkommen am Bruttoinlandsprodukt in Europa ist in den letzten 35 Jahren massiv zurückgegangen.
  • Institutionelles Lohndumping durch die neuen „competitiveness authorities“ bedrohen nicht nur die wirtschaftliche Stabilität zusätzlich, sondern auch die soziale Gerechtigkeit.

Stichwort Fünf-Präsidenten-Bericht: Die Wirtschafts- und Währungsunion soll vom 1. Juli 2015 an vertieft und bis 2025 vollendet werden. Auf welche Art dies geschehen soll, steht in einem am 22. Juni in Brüssel veröffentlichten Bericht, vorgelegt von fünf Präsidenten: Jean-Claude Juncker, Präsident der Europäischen Kommission, Donald Tusk, Präsident des Euro-Gipfels, Jeroen Dijsselbloem, Präsident der Euro-Gruppe, Mario Draghi, Präsident der Europäischen Zentralbank, und Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments.