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26.02.2016, Thomas Händel

„Wir erleben die massivsten Verwüstungen im Arbeits- und Sozialrecht seit dem Krieg“

Konferenz der GUE/NGL-Fraktion: „Kollektive Tarifverträge – Wie wir verlorenes Terrain zurückgewinnen“

Auf dem Podium mit Gabi Zimmer, Vorsitzenden der GUE/NGL-Fraktion. Bild: Louise Schmidt

Eröffnungsrede Thomas Händel, GUE/NGL
Vorsitzender des Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten im EP

siehe auch: Spendenaufruf Griechenland

Mit dem Angriff auf Arbeits- und Sozialrechte in Europa in den vergangenen zehn Jahren erleben wir die massivsten Verwüstungen von Arbeits- und Sozialrechten, von Gewerkschafts- und Streikrechten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Unter diesem Eindruck hat selbst die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) als tripartite Organisation von Arbeitgebern, Arbeitnehmern und Regierungen voriges Jahr gefragt: „Verliert Europa seine soziale Seele?“

Ich frage: Wo bleibt angesichts dieser Entwicklung eigentlich der Aufschrei der Zivilgesellschaft? Ich vermisse den Aufschrei der Bürgerrechtsbewegung, ich vermisse aber auch den Aufschrei der europäischen und nationalen Gewerkschaften. Nur wenige Beispiele:

- In den vergangenen Jahren sind Arbeits- und Sozialrechte in 20 von 28 EU-Mitgliedsstaaten ganz massiv eingegriffen worden.

- In Ungarn etwa darf ein Gewerkschaftssekretär den Betrieb nur noch betreten, wenn der Arbeitgeber es ausdrücklich wünscht.

- In Griechenland hat das Verbot vor von nationalen und sektoralen Tarifverträgen durch die Troika massiven Lohnabbau zur Folge. In den Jahren 2011 bis 2013 wurden dort 1.100 betriebliche Tarifverträge abgeschlossen – 70 Prozent von nichtgewerkschaftlichen Interessenvertretern. Das Ergebnis:  98,5 Prozent davon enthielten Lohnstopps und Lohnkürzungen.

- Gestern hatte ich die Gelegenheit mit Betriebsräten des spanischen TRAGSA-Konzerns zu sprechen, die Klage führen über das neue Arbeitsrecht in Spanien, das auch nach Einschätzung des DGB völlig vorbeigeht an der Europäischen Sozialcharta, sogar an der Grundrechtecharta und eingreift in Rechte, die wir uns als Gewerkschafter über Jahrzehnte hinweg erkämpft haben.

Und, und, und, (Mehr hierzu siehe den Artikel "Die Sparpolitik der Troika, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit")

Man könnte nun annehmen, die Arbeitgeber hätten im Windschatten der Krise die Gelegenheit genutzt, um quasi im Vorbeigehen ein paar Arbeitnehmerrechte zu kassieren. Das reicht als Erklärung nicht aus. Wir  bilanzieren ja nicht nur die Politik der Troika. Wir sehen die Entwicklung der letzten zehn Jahre und kommen zum Schluss: Das hat System! Es hat System im Kontext auch in der Politik dieser Europäischen Kommission. Sie zielt nun darauf ab, verstärkt vorwärts mit voller Kraft, die internationale Wettbewerbsfähigkeit auszubauen. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit ist nicht nur eine Kategorie für Sonntagsreden. Tatsächlich hat das in Europa und aus Europa heraus operierende Kapital gewaltige Ängste entwickelt. Man ist in großer Sorge, den Vorsprung gegenüber konkurrierenden Kapitalien in den BRIC-Staaten, in Südostasien, in China einzubüßen.

Nun kann man Wettbewerbsfähigkeit ausbauen durch Qualitätssteigerung, durch bessere Güter und Dienstleistungen. Das wäre die klassische Volkswirtschaftslehre. Man kann es aber auch tun, indem man sich Kosten vom Hals schafft und Störfaktoren beseitigt.  Kosten sind Tariflöhne, Kosten sind Sozialkosten. Und Störenfriede sind Gewerkschaften, die ihre Rechte und die Interessen der abhängig Beschäftigten im Betrieb und über den Betrieb hinaus durchsetzen.

Die im Fünf-Präsidenten-Bericht formulierten Pläne für die Vertiefung der EU weisen nicht nur mit den nationalen Wettbewerbsräten in diese Richtung. Europa soll nach innen und nach außen - und im Sinne des Kapitals - schlagkräftiger gemacht werden. Und zwar jetzt, mit voller Kraft über eine Economic Governance – eine wirtschaftspolitische Steuerung – nach neoliberalen Kriterien.

Ein Instrument, das euphemistisch „Bessere Gesetzgebung“ genannt wird, zielt wesentlich auf den Rückbau von arbeits- und sozialrechtlichen Bestimmungen, von umwelt- und Verbraucherrechten. Es geht darum, Kosten für die Kapitalseite zu reduzieren – vor allem, wie gerne behauptet wird, zur Verbesserung der Bedingungen für kleine und mittlere Unternehmen.

Arbeitsrechtler bestätigen uns: 90 Prozent unserer Arbeits- und Sozialrechtssubstanz auf nationalstaatlicher  Ebene ist flankiert und geschützt durch europäisches Recht. Wenn die Kapitalseite jetzt anfängt, auf europäischer Ebene diese Rechte zu schleifen, werden auch in den Mitgliedsstaaten die Dämme brechen.

Indessen gibt es seit vorigem Jahr verwirrende Äußerungen seitens der Kommission: man wolle in Europa ein soziales Triple-A und soziale Mindeststandards installieren. Man wolle den gleichen Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort durchsetzen. Man wolle den Arbeitnehmerbegriff erstmalig auf europäischer Ebene definieren – alles Forderungen, die wir unterstützen können.

Es ist aber keine Frage von Überschriften, es ist eine Frage des Inhalts: Mindeststandards kann man auch sehr tief unten ansetzen. Den Arbeitnehmerbegriff kann man auch so löcherig definieren, dass viele durchs Raster fallen, beispielsweise bei Null-Stunden-Verträgen oder bei Crowdworkern. Und es ist eine Frage des Niveaus, wie hoch der gleiche Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort letztlich angesetzt wird. Einiges deutet darauf hin, dass diese Mindeststandarts gleichzeitig auch Höchststandards werden sollen.

All das könnte durchaus dazu führen, dass die wirtschaftspolitische Governance in Europa gestärkt wird und die Kosten gesenkt werden. Dem Ganzen gibt man dann ein soziales Dressing, das gut klingt aber nichts kostet - reine Rhetorik und für die Beschäftigten ohne Substanz.

In dieser Situation müssen wir uns auseinandersetzen mit dem Aufkommen rechter Regierungen und deren Einfluss auf europäische Politik, insbesondere über den Europäischen Rat. Wir müssen uns darauf einstellen, dass wir es in den nächsten Jahren immer weniger mit einem sozialverbrämten Kapitalismus zu tun bekommen, sondern mit einem autoritäreren Kapitalismus, der Wirtschaftsinteressen noch viel stärker und direkter durchzusetzen plant, als das bisher schon der Fall ist.

Ich hoffe sehr, dass wir Widerstand organisieren und dafür sorgen, dass wir unsere Errungenschaften verteidigen können, dass wir Alternativen entwickeln können für eine stärkere soziale Entwicklung dieses Europa. In diesem Europa gibt es etwas zu verteidigen. So sunzureichend  es auch sein mag - es kann auch noch schlechter werden.

Und ich hoffe sehr, dass wir uns darauf konzentrieren, das zu verhindern.

 

Grußwort Gabi Zimmer, Vorsitzende der GUE/NGL-Fraktion: Die Verhandlungen der EU mit Großbritannien haben den Weg geöffnet: Im Falle eines Verbleibs der Briten in der EU ist mit einem Frontalangriff auf die Sozialsäule und die Beschäftigungssäule der EU zu rechnen. Die erste Reaktion nach Veröffentlichung der Ergebnisse war: Andere Mitgliedsstaaten warten nur darauf, ebenfalls zusätzliche Lohnleistungen zu begrenzen. Deutschland hat sofort erklärt, man wolle diesem Beispiel folgen und 200 Millionen Euro einsparen, indem man Beschäftigten, deren Kinder nicht in Deutschland, sondern im Heimatland leben, kein Kindergeld mehr zu bezahlen brauche. Der britische Premierminister David Cameron will nicht nur Sozialrechte für nichtbritische Beschäftigte einschränke. Er hat bereits ein Anti-Gewerkschaftsgesetz ins Parlament eingebracht, das auch von den Vereinten Nationen bereits kritisiert worden ist. Es soll Gewerkschaften erschweren, Kollektiv-Verträge abzuschließen. Diese Entwicklung gibt es in der gesamten EU. Die EU-Kommission behält sich das Recht vor, in Kollektiv-Verhandlungen einzugreifen. Auch in Zusammenhang mit dem Bericht zum Europäischen Semester, dem Jahreswachstumsbericht, auf dessen Grundlage Empfehlungen ausgesprochen werden, auch dort hat man sich vorbehalten, in Kollektiv-Verhandlungen einzugreifen. Im Fünf-Präsidenten-Bericht, dem Strategiebericht der EU bis 2020, behält man sich für die EU-Währungszone die Einrichtung nationaler Wettbewerbsräte vor, die eine institutionelle Verstetigung dieses Eingriffs in die nationale Tarifautonomie darstellen.

Aristea Koukiadaki (University of Manchester): Die neuen Wirtschaftssteuerungs-Mechanismen auf EU-Ebene kommt man zu einer Institutionalisierung der der Fiskalpolitik. Eine Reihe von Mechanismen wurde beschlossen, die die Kontrolle der Politik in den Mitgliedsstaaten erleichtern. Die Sozialpolitik ist durch direkte und indirekte Maßnahmen tangiert. Hinzu kommen Kreditvereinbarungen, die die Mitgliedsstaaten betreffen, vor allem jene, die am höchsten verschuldet sind: Bei Irland und Portugal geht es konkret um einen EU-Rechtsrahmen. Bei Griechenland geht es um zwischenstaatliche Vereinbarungen. Bestimmte Länder, die unter diese Kreditvereinbarung fallen, haben unterschiedliche Maßnahmen durchzuführen. 2012 ging es in einem EU-Dokument darum, die Macht der Gewerkschaften bei der Tarifgestaltung zurückzudrängen. Untersuchen zeigen: Bei den Tarifverhandlungen hat eine Dezentralisierung stattgefunden. Deswegen fallen immer mehr Arbeitnehmer raus und die sozialpartnerlichen Beziehungen leiden. Gewerkschaften wurden geschwächt. Die Löhne sind unter Druck. Aus Sicht der Arbeitsgsetzgebung ist dies ein Beweis, dass das System der Tarifverhandlungen zu einem Schlachtfeld der Wirtschaftspolitik geworden ist. Es gibt unterschiedliche Strategien, um dem zu begegnen. Man kann mit Verweis auf die EU-Grundrechte-Charta juristisch Einspruch erheben. Argument der EU-Kommission: Die Programme fielen nicht unter EU-Recht, also sei man auch nicht an die Charta gebunden. Dem hat der Europäische Gerichtshof widersprochen. Aber: Wir sollten nicht darauf vertrauen, dass sich der EuGH bei diesen Streitfällen einmischt. In einem Fall wurde durch das Einschreiten des EuGH die Tarifautonomie auch eingeschränkt. Weitere Instrumente um sich zur Wehr zu setzen sind das Europäische Komitee für Sozialrechte und der Europäische Bürgerbeauftragte.

Esther Lynch, Arbeitsrechtlerin der Europäischen Gewerkschaftsunion (ETUC): Krach schlagen werden wir, wenn versucht wird, die Richtlinie zum Arbeitnehmer-Entsenderecht aufzuweichen.

Javier Orrit Doz, Mitglied des Wirtschafts- und Sozialausschusses (EESC): Seit dem Jahr 2000 ist eine Kehrtwende zu beobachten. Seit 2000 geht es rückwärts. In der Zeit von 2000 bis 2015 hat Europa nur eine einzige Richtlinie zum Tarifrecht zustande gebracht. Die Arbeitgeber wollen keine weiteren EU-Bestimmungen mehr. Seit 2010 sind Gewerkschaften nicht in der Lage, eine Gegenoffensive zur Sparpolitik aufzubauen. Seit 2010 gab es europaweit lediglich fünf Generalstreiks. Die Europäischen Gewerkschaften brauchen den Druck von unten, alleine schaffen wir das nicht!

Heinz Bierbaum, Trade Unionist Network Europe (TUNE)

Heinz Bierbaum, Trade Unionist Network Europe (TUNE): Die Koordination auf europäischer Ebene ist wichtiger denn je. Wir brauchen einen noch stärkeren Austausch über Branchen-, Sprach- und Ländergrenzen hinweg. Besonders die Lage der Gewerkschaften in Osteuropa ist dramatisch. Durch regelmäßigen Austausch verhindern wir, dass Gewerkschaften gegeneinander ausgespielt werden. Und wir können praktische Unterstützung leisten, so wie wir die Belegschaft von „Lego-Land“ unterstützt haben, so wie wir bei Gewerkschaftsprotesten in Dänemark und Deutschland geholfen haben, so wie wir uns bei DHL in Istanbul und bei Amazon in ganz Europa engagiert haben.

Constantino Koumbounis, Allgemeiner Belgischer Gewerkschaftsbund FGTB Metal: Die Gewerkschaften in Belgien erleben zurzeit einen Angriff auf das belgische Sozialmodell. Tarifverträge sind eine durch jahrzehntelang ausgefochtenen Kampf erzielte Errungenschaft. Sie sind das soziale Erbe eines Volkes. Derzeit findet ein Angriff auf Tarifverträge und damit auf das soziale Herz des Landes statt. Lohneinfrierungen und Beeinträchtigungen aller Art sind an der Tagesordnung. Die Regierung mischt sich in die Tarifverhandlungen ein. Wir erleben eine Arroganz unter Unternehmern, weil sie um die Unterstützung der Regierung wissen. Gefordert wird ein Flexibilitäts-Dreieck bei Arbeitszeit, Arbeitsverträgen und Löhnen. Ermöglicht werden sollen 60 bis 70 Stunden Arbeitszeit pro Woche und Kurzarbeit von 20 Wochenstunden. Auch die Gewerkschaften sind im Visier der Regierung: Das Streikrecht wird torpediert. Die Gewerkschaft als Organisation soll zur juristischen Person erhoben und damit verklag- und haftbar gemacht werden. Slogans genügen nicht mehr. Die Gewerkschaften müssen raus aus den Betrieben. Bauern, Intellektuelle, Journalisten müssen sich verbünden gegen ein Europa, in dem die Menschen nichts mehr zu sagen haben. Die Gewerkschaften sind am stärksten, wenn sie angegriffen werden.

 

In der Debatte warb Martin Krämer, Gewerkschaftssekretär der IG Metall in Frankfurt, für Klarheit in der Sprache. Es sei an der Zeit, vom allgemeinen „EU-Speech“ von den „Sozialpartnern“ zurückzukehren zu klaren Ansagen. Die Arbeitgeber-Seite müsse beim Namen genannt werden: „Klassengegner“, mindestens aber „Interessenvertreter“. Der Kampf sei eröffnet. „Heute Griechenland, morgen wir.“ Wenn es schlecht läuft, wird die Griechenland aufgezwungene Sparpolitik kein in der EU-Historie einmaliger Vorgang bleiben. Die Austeritätspolitik könne vielmehr eine Blaupause für eine zukünftige rechtsfreie Politik in Europa sein.

In einem weiteren Forum sprachen der spanische Ökonom Bruno Estrada-Lopez, Prof. Savvas Rombolis von der Panteion University Athens, Christos von der Pancyprian Federation of Labour in Zypern und Carlos Carvahlo von der portugiesischen Arbeiter-Konföderation.

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