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19.04.2016, Thomas Händel

Eine europäische Säule sozialer Rechte?

Thomas HÄNDEL

Fast ein Viertel der Menschen in Europa lebt an oder unter der OECD-Armutsgrenze. Die Einkommensungleichheit nimmt rapide zu, die Reichen werden immer reicher. 

Die Prekarität frisst sich wie ein Krebsgeschwür durch die europäischen Gesellschaften.

In der reichsten Periode der europäischen Geschichte wachsen Ungleichheit, Armut und Ausgrenzung. Die Vision eines durch und durch sozialen Europa rutscht immer weiter hinter den Horizont.

Die EU ist drauf und dran die Billigung der Menschen zu verlieren. Juncker räumt ein, seine Kommission sei die "der letzten Chance". Die wachsenden Bewegungen gegen die Austeritätspolitik von links, allerdings auch die stärker werdenden nationalistischen Parteien von rechts haben der Kommission einen gehörigen Schrecken eingejagt. Doch zu einem kompletten Kurswechsel hat sie kein Mandat. Ein neues Layout muss also her, ob sich der Inhalt ändert bleibt abzuwarten. Alles deutet auf ein "Weiter mit voller Kraft - aber mit sozialem Dressing" hin. Das wird nicht reichen!

Bereits Im Oktober 2014 hat Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in einer ehrgeizigen Rede vor dem Europäischen Parlament ein soziales "Triple A" für Europa angekündigt. Teil seiner folgenden Charmeoffensive war auch die überraschende Ankündigung, das Prinzip »gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort« solle durchgesetzt werden.

Selbst der Fünf-Präsidenten-Bericht zur Vollendung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion will den Fokus stärker auf Beschäftigung und Soziales setzen. Sogar der Ministerrat der Arbeits- und Sozialminister fordert – die "Sozialpolitik soll ihr volles Potenzial nutzen und soziale und beschäftigungspolitische Herausforderungen für die Erreichung der gemeinsamen Sozial- und Beschäftigungsziele in der Europa-2020-Strategie" angehen."

Zwischen blumigen Ankündigungen und den dann beschlossenen Initiativen der EU-Kommission liegen dann allerdings Welten. Aus der Durchsetzung des Prinzips "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort" wurde ein ziemlich müder Versuch, den seit Jahren massenhaften Missbrauch der Arbeitnehmerentsendung marginal zu reparieren. Insider tuscheln, Juncker habe in seiner eigenen Kommission keine Mehrheit für seine Ankündigungen.

Nun startet die EU-Kommission eine Initiative zur Einführung einer europäischen Säule sozialer Rechte.  Dies hatte Juncker bereits im September 2015 angekündigt.: "[Wir müssen] die Arbeiten an einem fairen und wahrhaft europäischen Arbeitsmarkt vorantreiben. [...] In diesem Zusammenhang möchte ich eine europäische Säule sozialer Rechte entwickeln, die die sich verändernden Realitäten in den europäischen Gesellschaften und in der Arbeitswelt widerspiegelt. Und die uns als Kompass für eine erneute Konvergenz innerhalb des Euro-Raums dienen kann. Die europäische Säule sozialer Rechte sollte das ergänzen, was wir gemeinsam zum Schutze der Arbeitnehmer in der EU erreicht haben. Ich erwarte, dass die Sozialpartner in diesem Prozess eine zentrale Rolle einnehmen. Ich glaube, wir tun gut daran, mit dieser Initiative innerhalb des Euro-Raums zu beginnen und anderen EU-Mitgliedstaaten anzubieten, sich anzuschließen, wenn sie es wünschen.“


Ein soziales Kerneuropa? Zu welchen Bedingungen??

Der vorliegende Entwurf läßt zunächst aufhorchen. Der Vorschlag beinhaltet 20 Politikfelder, die über die eingeschränkten EU-Kompetenzen im Sozialen hinausgehen. In drei Kapiteln "Chancengleichheit und Arbeitsmarktzugang", "Faire Arbeitsbedingungen" sowie "Angemessener und nachhaltiger Sozialschutz" werden Positionen referiert, die allenfalls einen guten Anfang darstellen.

Der Haken: Das fertige Dokument wird keine Rechte schaffen, die vor Gericht einklagbar sind. Sie sollen nur „als Bezugsrahmen für das Leistungsscreening der teilnehmenden Mitgliedsstaaten im Beschäftigungs- und Sozialbereich fungieren“ und sollen „Reformen auf nationaler Ebene vorantreiben und insbesondere als Kompass für eine erneute Konvergenz innerhalb des Euroraums dienen.“ (EU-Kommission) Das ist zu wenig! Das Ergebnis der kommenden Konsultation ist als unverbindlicher Sozial-Knigge überflüssig.

Und doch gibt die Debatte eine gute Chance über die soziale Verfassung Europas öffentlich Druck zu entwickeln. Das sollten wir nutzen.

Zu diskutieren wären die Fragen exististenzsichernder Löhne, eines europäischen Mindestlohnniveaus, gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort, stärker Arbeitnehmer- und Gewerkschafts-Rechte, eine verbindliche sozialen Grundsicherung und verbindliche soziale Mindeststandards, verstärkte Arbeits-Inspektion auf europäischer Ebene mit u.v.m.

Der Schutz der grundlegenden Sozial- und ArbeitnehmerInnen-Rechte in den Europäischen Verträgen ist unverzichtbar. Wir brauchen ein Europa mit dem Recht auf menschenwürdige und gute Arbeit, von der man eigenständig und armutsfrei leben kann. Wir brauchen ein anderes Europa - ein unsoziales Europa ist zum Scheitern verurteilt - mit verheerenden Folgen.

Die anstehende Debatte sollten wir nutzen, in sozialen und politischen Bündnissen nicht nur eine intensivere Europadebatte u.a. mit anderen linken Parteien in Europa anzustoßen, sondern damit auch in Richtung Bundestagswahl 2017 unsere Kernkompetenz Arbeit und soziale Gerechtigkeit auch öffentlich zu schärfen.