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02.02.2019, Thomas Händel, Frank Puskarev

Europe at a crossroads

Ein Kommentar zur Europadebatte der LINKEN. Was war, was ist, was bleibt, was muss kommen?

Unsere Zeit in Brüssel endet mit dieser Legislatur, nicht nur, aber hauptsächlich aus gesundheitlichen Gründen. Insofern ist dieser Rückblick etwas besonderes für uns. Was haben wir, was hat DIE LINKE im sozialen Bereich und der Arbeitsmarkt-Politik erreicht? Sind wir dem sozialen Europa wenigstens ein Stück weit näher gekommen? War alles vergebens? Letzteres wird wohl erst die Zukunft beantworten, hängt es doch vor allem davon ab, wie die nächsten Generationen auch LINKER Parlamentarier in der Lage und Willens sind, die europäische Idee zu verteidigen und für ein soziales Europa zu streiten. 

Wie sieht es also aus in Europa? Politik muss sich an Zahlen messen lassen. Und die zeigen leider, dass weiter jeder vierte Europäer (23,4 Prozent) von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht ist. Jeder sechste (16,5) ist von Armut bedroht, bei jedem dreizehnten (7,5) sind die Lebensbedingungen aufgrund fehlender Mittel erheblich eingeschränkt, und in jeder 10. Haushalt (10,4) leidet unter sehr niedriger Erwerbstätigkeit. Die Jugendarbeitslosigkeit ist mit 15 Prozent zwar fast wieder auf Vorkrisen-Niveau, bleibt aber mit fast oder über 40 Prozent vor allem in den Mittelmeeranrainerstaaten extrem hoch.

Glaubt man der Kommission, brummt die Wirtschaft wieder. Doch der Reichtum ist weiter äusserst ungleich verteilt, und so sind es auch die Chancen, von der Erholung zu profitieren. Die Kommission hatte zu Beginn der Legislatur versprochen, die soziale Komponente der EU zu stärken, eine „Soziale Säule“ sollte das verlorene Vertrauen der Bürger zurückgewinnen. Leider blieben die dem folgenden Vorschläge weit hinter den geweckten Erwartungen zurück, was vor allem an der Blockade-Haltung der Mitgliedsstaaten lag. 

Einiges wurde jedoch erreicht. Mit der Entsenderichtlinie haben wir nach 10 Jahren Kampf endlich das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“ festgeschrieben, auch für entsandte Beschäftigte. Der Arbeitsschutz wurde mit einer Richtlinie zu krebserregenden Stoffen entscheidend verbessert. Die Einrichtung einer europäische Arbeitsbehörde verbessert Informationsmöglichkeiten für Beschäftigte und soll Missbrauch bekämpfen. Die Überarbeitung der Richtlinie 883, welche die Koodinierung der sozialen Sicherungssysteme regelt, bringt zahlreiche Verbesserungen. Ein Europäisches Zugänglichkeitsgesetz verbessert die Möglichkeiten zur Beschäftigung von Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Eine Richtlinie schafft transparente und verlässliche Beschäftigungsbedingungen, damit Arbeitnehmer*innen ihre Rechte besser kennen. Und einiges mehr. 

Und dennoch: auch weiterhin kämpfen die Menschen in Griechenland und anderen Mittelmeeranrainern mit den Folgen der Krise, bezahlen die Menschen für die Fehler von Banken und Spekulanten. Im Mittelmeer ertrinken nach wie vor Menschen auf der Flucht vor Krieg und Hunger. Und Europa verschwendet Geld in Rüstung, statt in Menschen zu investieren. Es bleibt also viel zu tun. Und damit mache ich gleich weiter. 

Wir sind gebeten worden, etwas zum Europawahlprogrammentwurf zu sagen. Das wollen wir  gerne tun, und möchten zunächst betonen, dass uns der doch eher proeuropäische Ansatz gefreut hat, womit sich der Programmentwurf deutlich von früheren Entwürfen abhebt. Der Entwurf versucht, die in der Partei vorhandenen Pole zu verbinden, was für sich ein löblicher Ansatz ist. Bei der Gegensätzlichkeit der Positionen kann das allerdings nur schief gehen. Deswegen ist er nicht nur an vielen Stellen redundant, sondern leider auch widersprüchlich von Anfang bis Ende. 

Der vorliegende Entwurf enthält gute pragmatische Vorschläge und richtige Analysen der Situation in Europa, vor allem im Wirtschafts-, Finanz und Sozial- und Arbeitsmarktbereich. Allerdings enthält er genauso viele Falschdarstellungen und wortgewaltige aber inhaltsleere Ideologiephrasen. Sowohl der in der Partei leider immer noch weit verbreitete Vertragsfetischismus als auch die eigentlich mit dem Lissabonvertrag zu erneuernde und zu aktualisierende Demokratiekritik werden einfach aus früheren Entwürfen aus der Zeit vor 2009 übernommen. 

Da wird dann behauptet - das ist fast schon peinlich - nur der Rat kann Gesetze vorschlagen. Nein, liebe Autor*innen, es ist die Kommission, und sowohl Rat als auch Parlament können diese genau dazu und ganz konkret auffordern, und das muss die Kommission dann auch tun. Ebenfalls wenig hilfreich ist die stete Wiederholung der Behauptung, dass Europäische Parlament hätte nichts zu entscheiden. Wir können euch aus den letzten zehn Jahren sagen: Dann hätte man uns ganz schön an der Nase rum geführt. Wir haben nämlich jedes, noch einmal: jedes Gesetz, jede Richtlinie, jede Verordnung gemeinsam mit dem Rat behandelt, verhandelt und entschieden. Wenn man also weiter mit Verve den Lissabonvertrag zum Grund allen Übels erklärt, anstelle sich mit der Änderung der politischen Mehrheiten zu beschäftigen, sollte man diesen doch wenigstens mal gelesen haben. 

Dann wüsste man, dass die europäischen Eliten offenbar genauso Schwierigkeiten haben, die neuen Realitäten anzuerkennen wie einige LINKE. Man wüsste, dass der EuGH nun schon einige Mal bestätigt hat, dass die Grundrechte-Charta gleichrangiges Primärrecht mit Verfassungsrang ist. Wüsste, dass eine tatsächliche Militarisierung der EU den Verträgen widerspricht, wie es gerade jetzt erst wieder von führenden Verfassungsrechtlern festgestellt wurde. Und würde anerkennen, dass die europäischen Institutionen manche demokratische Errungenschaft erhalten haben, von denen andere Parlamente nur träumen dürfen. Oder wisst ihr noch ein Parlament, in dem die kleinste Oppositionsfraktion Gesetzesänderungen durchbringt? 

Das heisst im Übrigen nicht, dass es nicht noch viel zu verbessern gibt. Immer noch hat das EP kein vollständiges Initiativrecht, immer noch hat der Rat ein deutliches Übergewicht gegenüber dem Parlament. Dementsprechend gehört zu einer sauberen Analyse aber eben, die Verantwortlichkeiten in diesem „Europa“ klarer zu benennen. Denn es sind vor allem die Mitgliedsstaaten, die die Europäische Union ausbremsen. Es war und ist vor allem Deutschland als wirtschaftliche stärkstes Mitgliedsland, das Austerität zur obersten Priorität erhoben hat. 

Es sind vor allem Ungarn, Polen und die Visegrad-Länder, die eine solidarische Lösung in der Migrationsfrage blockieren. Nicht zuletzt  sind es Politiken in den Mitgliedsstaaten, die sozialen Kahlschlag vorantreiben. In Sachen Fiskalpakt waren es die Mitgliedsstaaten mit einem intergouvernementalen Vertrag sogar am Parlament und allen EU-Regeln vorbei, die sich auf Austerität verpflichtet haben.

Das es anders geht zeigt uns Portugal. Anhebung der Mindestlöhne, Ausweitung der Investitionen und bessere Renten sind möglich, auch in der EU. Dies im Europawahlprogramm deutlich besser zu reflektieren und die EU zu entsprechender Rahmensetzung zu motivieren, darin bestünde die vor uns liegende Aufgabe. 

Der Entwurf vermischt nach eingehender Lektüre dagegen leider durchgehend die verantwortlichen politischen Ebenen und ist so eigentlich geeignet, Europaskepsis und Ablehnung sogar zu vertiefen. Beispiele dazu finden sich u.a. im Kapitel Wohnen, welches eine doch sehr Deutschland- und Stadtzentrierte Sichtweise bietet, die anderen Regionen in Europa so gar keine Lösungsansätze bietet. Es wird gar wahrheitswidrig behauptet, die EU verbiete sozialen Wohnungsbau, außer für Bedürftige. Das stimmt nicht nur nicht - sonst müsste die Stadt Wien von ca. 60 Prozent Bedürftigen bewohnt werden, denn so hoch ist der Sozialwohnungsanteil in dieser Stadt - es unterschlägt auch, dass die Verscherbelung öffentlichen Eigentums - vor allem in Deutschland - im neoliberalen Wahn durch Städte und Kommunen ganz ohne Zutun der EU geschah. Auch durch ehem. Vorgängerparteien der LINKEN, übrigens. 

Im Kapitel Soziales steht z.Bps. die Forderung „Keine Vereinheitlichung“ den konkreten Forderungen diametral entgegen, wenn man die Rente entgegen der regionalen Traditionen nur noch umlagefinanziert gestalten wöllte, in der Pflege in Europa gleich die Personalbemessung festlegen will, im Bereich Wohnen ausschließlich auf Gemeineigentum setzt, obwohl in fast allen Ländern die Kultur des Wohneigentums traditionell ganz anders ist als bei uns, oder in einigen Abschnitten ausschließlich Bundesgesetze anführt. Dabei ist doch ein Wahlprogramm eigentlich immer Leitlinie für die wählende Institution und die darin vertretenen Parlamentarier?! Ihr seht, hier ist noch viel Arbeit vor uns. 

Auch im Bereich Wirtschaft, vorhin noch lobend erwähnt, finden sich Widersprüche. So wird an verschiedenen Stellen gefordert, bestehende europäische Programme beizubehalten resp auszubauen. Gleichzeitig will man an anderer Stelle europäische  Programme zusammenfassen und in eine Investitionsoffensive integrieren: in Höhe von 500 Mrd Euro jährlich. Das ist, man muss es mal sagen, 3,5 mal der jährliche Gesamt-EU-Haushalt. Seriös, durchgerechnet und in sich stimmig ist das noch nicht.

Und, und das ärgert mich am meisten, der Entwurf negiert fast sämtliche Erfolge linker Politik in Europa der letzten 10 Jahre. Welche trotz quantitativer Minderheit (#r2g 35%) und kräftigem Gegenwind von der Kapitalseite möglich waren: heute haben wir eine wenn auch nicht perfekte Bankenregulierung, so doch mit deutlicher mit linker Handschrift. Es gibt ein Konto für alle, zur Entsenderichtlinie sagte ich bereits etwas, wir LINKEN haben TTIP mit verhindert, wir haben bei Ceta so ordentlich Krach geschlagen, dass deutlich nachgebessert werden musste. Und, und ihr dürft mich dafür gerne steinigen, wir haben die Datenschutz-Grundverordnung entscheidend verbessert, um Eure Daten besser zu schützen. Und und und ...

Insgesamt haben wir fast 60 RL, VO und legislative Berichte zugestimmt. Und das aus Gründen. Weil wir Tage- und Nächtelang mit Rat und Kommission verhandelt und gerungen haben. Und das an Stellen wirklich erfolgreich. Aber wenn wir das nicht benennen, was ist dann der Gebrauchswert linker Europapolitik? Ein altes Sprichwort sagt: Tue Gutes und Rede darüber. Ich finde, hier kann man mal konservativ sein. 

Letztens, und da wird es dann wirklich traurig, weil Zeit zur Debatte hatten wir eigentlich genug, fehlt dem Entwurf eines: Die Perspektive, die Vision: wohin mit Europa? Was ist unsere Vision eines geeinten Europas, womit wollen wir die Menschen von diesem Europa begeistern? Ich finde, wir könnten viel deutlicher herausstellen: Wir wollen: gleiche Steuern, einheitliche Sozial- und Arbeitsrechte, eine angeglichene Wirtschaft für gleiche Lebensverhältnisse von Athen bis Stockholm, von Tallin bis Lissabon. Dafür lohnt es sich doch zu streiten. 

Wir bleiben euch deswegen erhalten, möglicherweise an anderer Stelle, aber mit gleichen Engagement. Für ein anderes, ein soziales Europa. 

Vielen Dank!