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12.05.2019, Alina Leimbach/ ND

Zwanzig Prinzipien sind noch kein Recht

Alina Leimbach schreibt im Neuen Deutschland vom 11. Mai 2019 zum Stand der Sozialen Säule der EU

Hier der Link zum Artikel auf ND-online.de 

An der »Sozialen Säule« der EU muss jetzt gemauert werden, wenn sie tragen soll.

»Solidarisches Europa«, »Für ein soziales Europa« oder »Nur ein soziales Europa ist ein starkes Europa«. Wer derzeit durch Flörsheim am Main, Mannheim oder Berlin-Kreuzberg geht, dem fällt auf: Das Thema Gerechtigkeit steht bei der Europawahl 2019 ganz oben, fast alle Parteien versprechen mehr Soziales für Europa. Dabei hat die eigentlich bereits seit 2017 eine »Soziale Säule«. Nur ist die noch nicht besonders tragfähig.

Bei der Ausrufung der »Säule der Sozialen Rechte«, wie sie korrekt heißt, auf dem Sozialgipfel in Göteborg vor eineinhalb Jahren, herrschte seltene Einmütigkeit: Die Regierungschefs, EU-Kommission und das Parlament verkündeten zusammen 20 Rechte und Prinzipien der »Sozialen Säule«. Darunter fallen das Recht auf Grundsicherung, angemessene Mindestlöhne und ein Verbot des Missbrauchs atypischer Verträge. Die Fortschritte bei der Umsetzung werden halbjährlich überprüft.

Lange Jahre hatte die EU das Thema Soziales ausgespart und sich auf die Deregulierung von Wirtschaft und Arbeitsmärkten konzentriert. Während Gleichberechtigung in der EU schon länger ein wichtiges und mit Marktprinzipien gut zu vereinbarendes Thema ist, waren andere Bereiche des Sozialen bislang heikel. Auch, weil die Verantwortlichkeit für Sozialpolitik allein bei den Mitgliedstaaten liegt. Mit der Euro-Krise jedoch erhöhte sich der Druck: Die Jugendarbeitslosigkeit erreichte 2013 eine neue Höchstmarke, in Teilen der EU kratzte sie an der 60-Prozent-Marke. In Griechenland wurden EU-Flaggen verbrannt. »Die EU-Kommission musste etwas beim Sozialen tun«, erklärt Europawissenschaftler Anton Hemerijck, der am European University Institute in Florenz lehrt.

Wo wirkt Politik, wo Konjunktur?

Und der amtierende Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hängte das Anliegen hoch: »Wenn wir soziale Fragmentierung und Sozialdumping in der EU verhindern wollen, dann müssen die Mitgliedstaaten sich auf die Soziale Säule einigen.« Zu Beginn seiner Amtszeit versprach er gar ein »soziales Triple-A-Rating« der EU, in Anlehnung an das damals alles überlagernde Paradigma der Kreditwürdigkeit.

Nur: Bislang ist die Säule ein Prestigeprojekt ohne greifbare Folgen. Die EU-Kommission klopfte sich zwar ein Jahr nach der Einführung auf die Schulter: »Seit der Implementierung 2017 haben wir konkrete Initiativen unternommen, um die 20 Rechte und Prinzipien der Säule in die Praxis umzusetzen«, heißt es in einem Bilanzpapier. Ein weiteres aus diesem Frühjahr verkündet gar: Mehr als 12,5 Millionen Jobs seien seit dem Antritt der Juncker-Kommission geschaffen worden, die Arbeitslosigkeit habe den niedrigsten Stand seit Beginn der Aufzeichnung im Jahr 2000 erreicht, und die Jugendarbeitslosigkeit sei zwar noch immer zu hoch, aber doch signifikant gefallen, »von einer Spitze von 24 Prozent in 2013 auf 14,8 Prozent kürzlich«. Doch diese Konjunkturdaten haben wenig mit der Säule zu tun.

Was die Kommission in ihrer Bilanz unerwähnt lässt: In Ländern wie Griechenland und Spanien sucht noch immer mehr als jeder Dritte Jugendliche einen Job. Und auch wer eine Stelle hat, ist nicht unbedingt abgesichert: Die Zahl der armutsgefährdeten Vollzeitbeschäftigten ist sogar gestiegen - von 7,1 Prozent im Jahr 2010 auf 7,7 Prozent im Jahr 2017. Insgesamt leben in der EU mehr armutsgefährdete Personen als noch vor zehn Jahren. Die Zahl stieg bis 2017 um 0,6 Punkte auf 16,9 Prozent.

Das Problem an diesen neuen sozialen Rechten ist, dass sie noch keine Rechte sind. Ihnen fehlt die Verbindlichkeit. Nach außen vermarktet die Juncker-Kommission die Soziale Säule zwar mit dem Attribut »Rechte«. Doch kann man sie nicht einklagen. »Die Mitgliedstaaten haben das Dokument und die Prinzipien unterschrieben, aber es besteht für sie kein Zwang, etwas umzusetzen«, sagt Europawissenschaftler Hemerijck. Er zeigt sich eher abwartend, was die Pläne zur Sozialen Säule betrifft: »Es gab bereits in der Vergangenheit immer wieder vollmundige Ankündigungen zum Sozialen Europa, die Lippenbekenntnisse geblieben sind.«

Immerhin berichtspflichtig

Allerdings gebe es auch positive Aspekte: Erstmals würden soziale Themen in Fortschrittsberichten der EU-Staaten beurteilt. »Die Mitgliedsländer müssen sich bei den 20 Punkten der Sozialen Säule daran messen lassen, was sie erreicht haben.« Man könne als individuelle Person die Rechte derzeit also zwar nicht einklagen, aber die Länder würden stärker als zuvor darüber ins Gespräch kommen. Jan Stern, der beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) das Thema Europa betreut, weist zudem darauf hin, dass verschiedene Akteure, auch die Mitgliedstaaten, die Erklärung der Sozialen Säule unterschrieben haben: »Das schafft einen gewissen Druck, das da tatsächlich Fortschritte passieren.«

In den vergangenen Wochen zeigten sich allerdings die Schwächen des nicht-bindenden Katalogs: Eigentlich wollte man noch eine Einigung über die Koordinierung der sozialen Sicherheitssysteme der einzelnen EU-Staaten erzielen - ein wichtiger Baustein der Sozialen Säule. Die überarbeitete Richtlinie soll einheitliche Regeln hinsichtlich des Anspruchs auf Pflege sowie bei Grenzgängern auf Arbeitslosengeld enthalten. Eine erste Absichtserklärung hatte die rumänische EU-Ratspräsidentschaft den Ländern abgerungen. Doch dann entschieden sich einige Mitgliedsstaaten im Rat, die Einigung zu blockieren, darunter Deutschland, Österreich, Luxemburg und die Niederlande.

»Das war eine herbe Schlappe«, sagt der scheidende Vorsitzende des Ausschusses für Beschäftigung und Soziale Angelegenheiten des Europaparlaments, Linksparteipolitiker Thomas Händel, dem »nd«. Der Vorgang zeige, wie wichtig nach wie vor die Mitgliedsstaaten sind. Was in der EU gemacht werde und was eben nicht, hänge nach wie vor entscheidend von den nationalen Haltungen ab. »Wenn die Mitgliedstaaten sich sozialer Politik verwehren, bleiben auch noch so hehre Vorhaben auf EU-Ebene zahnlos.«

Doch gibt es auch Bewegung. Jüngst einigten sich die Parlamentarier auf eine Reform der Entsenderichtlinie. Nun gilt das Prinzip ›Gleicher Lohn für gleiche Arbeit‹ für Beschäftigte, die über einen Entsendebetrieb aus dem Ausland kommen, und zwar ab dem ersten Tag. »Ein enormer Erfolg«, sagt Händel. »Ein Fortschritt, den ich kaum für möglich gehalten habe.«

Allerdings dürfte hierbei nicht die Soziale Säule den Ausschlag gegeben haben, sondern der Einsatz eines wichtigen Mitgliedstaats, in diesem Fall Frankreichs. Es war das besondere Anliegen des Präsidenten Emmanuel Macrons, die Entsenderichtlinie durchzubringen, gegen den Widerstand der osteuropäischen Staaten.

Ein paar vermeintliche Erfolge der Sozialen Säule haben zudem wenig mit ihr selbst zu tun: »Einige ohnehin schon geplante Direktiven, wie die zur Work-Life-Balance-Richtlinie, wären auch ohne die Erklärungen der Sozialen Säule auf die Agenda gekommen«, sagt Jan Stern vom DGB. »Da findet auch großes Reframing statt.« Wichtig sei, dass die 20 Prinzipien zu individuell einklagbaren Rechten würden. Und Stern drängt auf weiterreichende Regelungen wie ein Rückschrittsverbot: »Keine neue Regelung darf dazu führen, dass ein Land seine bisherigen Sozialstandards wegen ihr nach unten anpasst.« Ein »Soziales Fortschrittsprotokoll« solle festschreiben, dass die sozialen Grundrechte nicht mehr von den wirtschaftlichen Freiheiten unterminiert werden.

Fokus auf den Mindestlohn

Zumindest bei einem Punkt der Sozialen Säule könnte es absehbar Bewegung geben: den »angemessenen Mindestlöhnen«. Für sie werben in Deutschland alle Parteien des linken Spektrums im Europa-Wahlkampf. Bei 60 Prozent des nationalen Medianeinkommens könnte, so die bisherigen Vorstellungen, eine Mindestlohngrenze für die EU-Staaten liegen. Mit einem Mindestlohn in dieser Höhe würden zumindest Vollzeitbeschäftigte ein Einkommen oberhalb der Armutsgrenze erzielen, in Deutschland wären das etwa 12,63 Euro pro Stunde.

Dagegen wird eingewendet, die EU überschreite hier ihre Kompetenzen, Lohnfragen seien Sache der Nationalstaaten. »Doch das Argument trifft so nicht, weil gar nicht in die Löhne eingegriffen werden soll, sondern Mindeststandards formuliert werden, die dann national umgesetzt werden«, sagt Gewerkschafter Stern. Linkspolitiker Händel ist optimistisch: Es könne hier gelingen, »Mindestrichtlinien zu verankern«. Allerdings haben die osteuropäischen Länder Widerstand angekündigt - und auch Österreichs Kanzler Sebastian Kurz kritisierte das Vorhaben vor einigen Tagen scharf. Es sei ein wirtschaftlicher Vorteil in einigen Ländern, dass ihre Löhne niedrig seien.

»Kommt Zusammen für Arbeitnehmerrechte!«, heißt es auf einem Europawahlplakat der SPD. Und auch die Union schreibt »Unser Europa sorgt für Stabilität und soziale Sicherheit.« Wie ernst es den Parteien damit ist, können sie nach der EU-Wahl zeigen. Für ihre Ratspräsidentschaft 2020 hat sich die Bundesregierung das Thema schon mal auf die Fahne geschrieben.