Menu X
20.11.2019, Thomas Händel

Aus der Geschichte lernen

Den Finger in die Wunde gesellschaftlicher Missstände zu legen ist eine wesentliche Aufgabe linker Politik. Dazu braucht es ein gutes Gedächtnis. Für erkämpfte Erfolge genauso wie für gemachte Fehler und Niederlagen. Deshalb sind Archive unverzichtbar, für Linke besonders das Archiv Demokratischer Sozialismus (ADS). In diesem Archiv finden sich neben vielen wichtigen Dokumenten auch die Spuren des Aufbruchs der bis dahin zersplitterten westdeutschen Linken.

Im März 2004 schrieben wir, die Initiatoren, im Aufruf der «Initiative Arbeit und soziale Gerechtigkeit»: «Die letzten Jahre, insbesondere aber die Politik der sozialdemokratisch geführten Bundesregierung in den letzten Monaten haben gezeigt: Die SPD hat sich von ihren Grundsätzen verabschiedet. Entgegen ihren Wahlversprechen von 1998 und 2002, die sie als eine Alternative zur neoliberalen Politik der Vorgängerregierungen erscheinen ließen, hat sie sich zur Hauptakteurin des Sozialabbaus und der Umverteilung von unten nach oben entwickelt. Niemand von uns hatte erwartet, dass eine Partei mit so großer sozialer Tradition in so kurzer Zeit zum Kanzlerwahlverein mutiert, dessen aktuelle Politikziele nahezu alles negieren, wofür diese Partei in über hundert Jahren stand.»

Deshalb gründeten wir 2004 diese Initiative, ein offenes Bündnis zur Verteidigung unseres Sozialstaats und zur gerechten Gestaltung unserer Sozialsysteme und schrieben jenen Aufruf, der zehntausendfache Resonanz – national wie international – ausgelöst hat. Die Öffentlichkeit schien regelrecht darauf gewartet zu haben. 

In der Folge hat dieser Aufruf wesentlich zu den Erfolgen der Linken in ganz Deutschland beigetragen. Er war und ist gleichsam ein «Merkzettel» für das Gedächtnis der LINKEN, aber auch für das der SPD und künftig wohl auch für das der Grünen. Die Initiative mündete 2004 in die Gründung der Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG) und 2007 in die gemeinsam mit der PDS gegründete Partei DIE LINKE.

Das war und ist eine Erfolgsgeschichte. Zum ersten Mal in der jüngeren deutschen Vergangenheit hat sich bundesweit eine Partei links von der SPD formieren und etablieren können. Eine Westausdehnung der PDS war zuvor zwar immer wieder versucht worden, war angesichts des tief sitzenden Antikommunismus in Westdeutschland aber ohne Chance geblieben. Erst die Abkehr der SPD von ihrer Geschichte und ihrer sozialstaatlichen Orientierung eröffnete die Möglichkeit zur Bildung einer wirklich linken Formation. 

DIE LINKE hat die Politik verändert. Der drohende Durchmarsch des Neoliberalismus wurde gestoppt. Die Privatisierung öffentlichen Eigentums, von Gesundheitssystem und Rente gilt vielen nicht mehr als Allheilmittel. Die Deregulierung des Arbeitsmarkts konnte weitgehend gebremst und partiell revidiert werden, ohne DIE LINKE gäbe es keinen – wenn auch noch nicht ausreichenden – gesetzlichen Mindestlohn. 

Links hat gewirkt, auch auf europäischer Ebene. Selten konnten so viele Erfolge in der Beschäftigungs- und Sozialpolitik sowie im Verbraucherschutz erzielt werden wie in den letzten zehn Jahren im Europäischen Parlament – auf Initiative und mit maßgeblicher Beteiligung der Linken.

Aber wir sind längst noch nicht am Ende des Weges. Die Politik der Vergangenheit wirkt nach. Prekarität breitet sich weiter aus, die Verarmung wächst. Massive Kräfte auf nationaler und europäischer Ebene verhindern die Angleichung der Lebensverhältnisse hin zu einem sozialeren Europa. Spekulation und Mietwucher nehmen zu, Militarisierung und Aufrüstung lassen die Kriegsgefahr wachsen. Mit Digitalisierung und Klimawandel ziehen Bedrohungen herauf, die die Menschen als übermächtig und existenzbedrohend empfinden. Die Notwendigkeit einer starken überzeugenden linken Alternative liegt auf der Hand.

Heute ist DIE LINKE ein bedeutender Faktor des deutschen Parteiensystems und hat sich vor allem als sozialpolitischer Korrekturfaktor in der politischen Landschaft etabliert. Sie hat eine Reihe von Erfolgen errungen, die in der bundesdeutschen Parteiengeschichte beispiellos waren. Damit sie das auch weiterhin tun kann, ist aber eine offensivere Aufstellung nötig. Über die Zukunft DIE LINKEN wird weniger ihre Personalpolitik entscheiden, sondern ob sie sich an den Brennpunkten der sozialen Auseinandersetzungen als Meinungsführerin erweist.

Zur Geschichte dieser jungen Partei gehört seit 2010 aber auch eine Phase der Stagnation, verbunden mit bitteren Niederlagen bei Wahlen, kontinuierlich sinkenden Zustimmungswerten in Umfragen und Verlusten bei ihren Kernwählerschichten. Welche Folgen dies für die politische Außendarstellung der Partei hat und ihre gesellschaftliche Verankerung hat, lässt sich nur befürchten.

Der Markenkern der WASG war immer identisch mit der Kernkompetenz der LINKEN: Arbeit und soziale Gerechtigkeit. Eine Vernachlässigung dieser Kompetenz hätte negative Folgen für die programmatisch-strategische Entwicklung DER LINKEN. Die WASG war strikt auf die Verbesserung der Arbeits- und Lebensverhältnisse von Arbeitnehmer*innen, Rentner*innen und Erwerbslosen sowie auf die Popularisierung von Alternativen orientiert. Das war eine strategische Antwort auf die Zumutungen der Agenda 2010, die ihrerseits die rot-grüne Reaktion  auf die Krise im Zuge der Durchsetzung des Finanzmarktkapitalismus war. Diese Entscheidung für den Vorrang der sozialen Verteidigung gehört in die Debatte über den Kurs der LINKEN. Die Ansprache der bedrohten Arbeitnehmermitte (im Westen) war das «Kapital», das die WASG mit in die neue LINKE eingebracht hat. Verschwindet dieser historische und politische Bezugspunkt, schwindet die Akzeptanz und Zustimmung für DIE LINKE. Das hat negative Folgen für ihre Mitgliederbasis und Mobilisierungsfähigkeit. Der von vielen beklagte Exodus von aktiven Gewerkschafter*innen aus der LINKEN ist mittlerweile gravierend, die Wahlanteile in den gewerkschaftlichen Wählerschichten erst recht.

Niemand wird behaupten, dass das Verschwinden der WASG die Ursache für die aktuellen problematischen Entwicklungen wäre. Allerdings kann der Attraktivitätsverlust der LINKEN zurückgeführt werden auf das Schwinden des Markenkerns Arbeit und soziale Gerechtigkeit. Es ist daher, wie bereits der frühere Vorstandsvorsitzende der Rosa-Luxemburg-Stiftung Heinz Vietze betonte, ein lohnendes Vorhaben, Ressourcen in die Sicherung des historischen und politischen Erbes der WASG als Reservoir für die Traditionsbestände der LINKEN zu stecken. 

Dieses Vorhaben ist kein Selbstzweck. Es reicht nicht aus, die Geschichte der WASG neben die Geschichte der PDS zu stellen und beide Traditionsbestände unvermittelt nebeneinander stehen zu lassen. Die Partei DIE LINKE kann dadurch gewinnen, dass sie die Geschichte der beiden Quellparteien aufnimmt und das so eine gemeinsame Geschichte der LINKEN entsteht. Der Austausch über die verschiedenen Wurzeln und Traditionen der Linken ermöglicht einen Prozess, in dem Unterschiede und Gemeinsamkeiten herausgearbeitet und gemeinsame Traditionslinien ermittelt werden.

Die bereits im Archiv befindlichen Interviews mit der Gründungsgeneration der WASG sind Teil der Sicherung ihres Erbes. Es handelt sich weder um eine abschließende Darstellung zur Geschichte der WASG noch um eine Analyse. Es ist die subjektive Sicht derjenigen, die die neue Partei gründeten und den Weg in DIE LINKE mitgingen; die Interviews vermögen wichtige Anstöße für die weitere Auseinandersetzung mit der Geschichte der LINKEN und deren Weiterentwicklung zu geben.

Das Archiv Demokratischer Sozialismus bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung, dem die Verwaltung des Archivguts der LINKEN obliegt, hat sich auch der schwierigen Aufgabe angenommen, das verfügbare Archivgut der WASG zu systematisieren. Das abgelieferte Archivgut der WASG wurde erfasst. Es weist aber bis heute Lücken auf, die es zu schließen gilt. Offen ist die Frage, inwiefern sich diese Lücken durch Quellenmaterial, das sich im Privatbesitz bzw. in Archiven regionaler Gliederungen befindet, schließen lassen. Allein einen einigermaßen geschlossenen Archivbestand zur Geschichte der WASG zusammenzustellen und zugänglich zu machen wäre jedenfalls eine ebenso lohnende wie schwierige und ressourcenintensive Aufgabe, deren Umsetzung noch aussteht. Es fehlt bislang ein analytischer und systematisierter Zugang zur Geschichte der WASG, um diese Formation als eigenständiges Phänomen der deutschen Politikgeschichte zu würdigen und zu untersuchen.

Schließlich ist auch der Prozesscharakter der kurzen WASG-Geschichte kaum gewürdigt worden, einer Formation, die als linke Sammlungsbewegung für den Sozialstaat begann, in Wahlkämpfen zur Partei wurde und praktisch unmittelbar nach der Parteiwerdung in eine neue Dynamik stürzte, die in der eigenen Auflösung münden sollte. Wie diese Aneinanderreihung außerordentlicher Ereignisse und Anforderungen mit den Erfordernissen des Parteiaufbaus vor Ort, der innerparteilichen Demokratie und Kommunikation sowie der organisatorischen Stabilisierung zu vereinbaren war, ist praktisch nicht untersucht worden. Gerade dieses Ineinander von Parteiaufbau und atemloser Eile wird in den archivierten Interviews sehr deutlich.

Ein wesentliches Ziel des Archivs wäre erreicht, wenn es mit Aufarbeitung dieses Stücks der Parteigeschichte ein neues Interesse an der Geschichte der LINKEN erzeugen würde. Das wäre unbedingt nötig.

Gerade heute gilt es wieder, das Gedächtnis aufzurufen. Denn der Mobilisierungskern der WASG ist nach wie vor relevant. Nach wie vor geht es um die Verteidigung der sozialen Interessen der Mehrheit. Nach wie vor geht es um den Konflikt «die da oben – wir hier unten», also um eine Klassenauseinandersetzung.

Die Begriffe gute Arbeit und soziale Gerechtigkeit gehören zu den tragenden Säulen unserer Programmatik. Sie zu vernachlässigen wäre nicht nur die Preisgabe eines wesentlichen Teils des Erbes der Arbeiterbewegung, sondern auch das Gegenteil des Imperatives «aus der Geschichte lernen» zu sollen.