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01.03.2010, Thomas Händel

Finanzverfassung muss her

Die Eurokrise macht klar: es geht nicht ohne Bankenregulierung

Der Schreck über das Ausmaß der schwersten Finanz- und Wirtschaftskrise seit Ende der 1920er-Jahre ist den etablierten Wirtschaftswissenschaftlern mächtig in die Glieder gefahren. Bis in konservative Kreise hinein sind Forderungen nach Regulierung der Finanzmärkte laut geworden. Bisherige Regierungsinitiativen sind allerdings in weitgehend unzulängliche – wenn nicht sogar lächerliche – Gesetze gemündet.

Seit rund 30 Jahren erleben wir eine exorbitante Zunahme privaten Vermögens. Im Jahr 1980 waren Weltsozialprodukt und Finanzvermögen etwa gleich groß. Im Jahr 2006 dagegen war das Finanzvermögen bereits dreieinhalb Mal größer als das Sozialprodukt. Die Ursachen: Die entwickelten kapitalistischen Ländern gerieten in eine Spirale von Wachstumsschwäche, Arbeitslosigkeit und einer massiven Umverteilung von unten nach oben. Fallende Lohnquoten schwächten die Nachfrage. Gewinne und hohe Einkommen wurden seltener für Investitionen in Produktion und Dienstleistungen eingesetzt. Folge: Die hektische Suche nach Anlageformen und -märkten verlangte eine Entfesselung der Finanzmärkte. Mit der Demontage öffentlicher Alterssicherungssysteme und der Entwicklung von kapitalgedeckten Rentensystemen etwa flossen Unsummen von Beiträgen der Beschäftigten auf die Kapitalmärkte. Ende 2006 betrug das Finanzvermögen der Pensionsfonds 22,6 Billionen Dollar – fünf Mal mehr als 1992. Weltweit rund 12.000 Hedgefonds sowie Privat Equity Fonds zogen Kapital durch riskante Anlageformen an. Bis die Blase platzte.

Europa war in diesem Szenario nicht Opfer sondern Player. Die Standortkonkurrenz innerhalb der EU verschärfte die Unterschiede der Binnenmärkte, der Außenhandelsentwicklung und der Produk- tivitäts- und Lohnstückkostenentwicklung. Insbesondere Deutschland führte die Auseinandersetzung um die Reduzierung der Lohnstückkosten primär durch erzwungene Lohnzurückhaltung und Kostensenkung im Sozialbereich an. Andere EU-Staaten zahlten dafür mit wachsenden Leistungsbilanzdefiziten und geringen Wachstumsraten. Von einer Koordination der Wirtschafts- und Finanzpolitiken keine Rede. Auch der Wettbewerb um den attraktivsten Finanzplatz wurde zwischen den EU-Staaten mit Macht betrieben. Finanzmarktliberalisierung und Steuersenkungswettbewerb entlasteten Vermögenseinkommen und Unternehmensgewinne sowie bescherten den Staaten permanente Einnahmenverluste.

Die Finanzmarkt- und Bankenkrise wirft nun die EU-Wirtschaft weit zurück. Das Ziel der Lissabon-Strategie, die EU bis dieses Jahr zur «wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsregion der Welt» zu machen, ist endgültig fehlgeschlagen. Die Europäische Kommission erwartet über Jahrzehnte nicht einmal das moderate Wachstum von vor 2008. Die Frage der Verfasstheit Europas stellt sich neu. Eine Währungsunion ohne gemeinsames politisches Regulativ kann nicht funktionieren. Vor allem dann nicht, wenn ihre Konstruktion davon ausgeht, die ungehinderte Entfaltung der freien Kräfte des Marktes sei per se gut und führe immer zu richtigen Ergebnissen. Das beginnt schon bei der Frage des Ausgleichs sich unterschiedlich entwickelnder Wettbewerbsfähigkeit. Sie können in kapitalistischen Ländern mithilfe von Auf- oder Abwertung der Währung zumindest teilweise aufgefangen werden. Bei einer gemeinsamen Währung existiert das Instrument nicht.

Griechenland ist nun das Experimentierfeld für die künftige europäische Austeritätspolitik. Vor kaum drei Jahren galt der Staat als Musterknabe der OECD: Die Etatkonsolidierung komme voran, Griechenland sei nach strukturellen Reformen robuster geworden und habe die zweitbeste Performance aller Industrieländer. Auf Geheiß von Brüssel war entbürokratisiert, privatisiert und waren Steuern gesenkt worden. Das Staatsdefizit blieb dennoch zu hoch. Alles kein Grund für eine Staatspleite – bis zum Krisen-Tsunami.

Angefeuert von Ratingagenturen, mit Beifall flankiert von Boulevardzeitungen und Voodoo-Ökonomen trieben Spekulanten ihr Spiel. Bei jeder Neuanlage von Staatschulden musste Griechenland einen drei Mal höheren Risikoaufschlag zahlen – auf Dauer eine ‘selffulfilling prophecy’, die zur Ursache eines Staatsbankrotts gereicht. Andere Länder werden folgen.

Drei Möglichkeiten stünden zur Verfügung. Erstens: Griechenland erklärt den Staatsbankrott und schuldet um. Diese Möglichkeit scheidet aus. Allein bei deutschen Banken steht Griechenland mit 33 Millilarden Euro in der Kreide. Davon wollen Ackermann & Co. nicht einen Cent abschreiben. Lösung zwei: Griechenland spart zu Lasten der Masseneinkommen, senkt Staatsausgaben, verscherbelt das verbliebene öffentliche Tafelsilber, erhöht Steuern bei der Bevölkerungsmehrheit und senkt damit die Nachfrage. Investitionen unterbleiben, neue Sparorgien folgen zwangs- läufig. Dritte Lösung: Europa zeigt sich solidarisch und hilft dem in Not geratenen Mitglied, nimmt den Druck der Finanzspekulanten von Griechenland etwa mit dem Kauf von griechischen Staatsanlei- hen zu einem vertretbaren Zinssatz durch die Europäische Zentralbank (EZB). Das allerdings ist durch den Lissabon-Vertrag strikt verboten. Dies zeigt: Europa braucht (nicht nur) bei Wirtschaft und Finanzen eine umfassende Revision seiner Verfasstheit.

Mit der «Finanzverfassung» wäre zu beginnen. Denn die Finanzwirtschaft ist die Schlüsselbranche der Moderne. Sie kann die Existenz von Millionen, wenn nicht gar Milliarden Menschen gefährden, muss daher unter gesellschaftliche Kontrolle gestellt werden. Dazu fehlen aber die politischen Mehrheiten. Nötig wäre zumindest eine strikte Regulierung, die alle Finanzmarktakteure umfasst und über eigene Handlungskompetenz verfügt. Erforderlich ist die Trennung von klassischen Geschäftsbanken vom Investmentgeschäft, das Verbot, Zweckgesellschaften außerhalb der Bilanzen zu betreiben und verschärfte Eigenkapitalvorschriften sowie eine Verschuldungsquote für die Banken.

Finanzprodukte müssen künftig von einer unabhängigen Behörde zugelassen und riskante Finanzprodukte, Leerverkäufe und der Handel mit Credit Default Swaps verboten werden. Pensionsfonds muss untersagt werden, in Hedgefonds und Privat- Equity-Fonds zu investieren, unumgänglich ist eine öffentlich kontrollierte europäische Rating-Agentur. Finanztransaktionen müssen besteuert werden – das entschleunigt Finanzgeschäfte.

Eine Steuer auf alle Wertpapier-, Derivate- und Devisenumsätze bringt allein in Deutschland zweistellige Milliardeneinnahmen und Handlungsspielraum für Haushaltssanierung und sozial-ökologische Entwicklung. Die EZB muss auf die Stimulierung von Investitionen und Beschäftigung verpflichtet werden. Eine Europäische Risiko- und Entwicklungsbank, die Staatsanleihen aufkauft und dafür zu günstigen Konditionen Kredite ausreicht, könnte den Druck der Finanzmärkte auf die Mitgliedsstaaten erheblich reduzieren. Dazu gehört allerdings auch zwingend, das «Scharfrichterschwert» Stabilitäts- und Wachstumspakt zu revidieren. Nötig ist zudem eine europäische Wirtschaftsregierung unter demokratischer Kontrolle der Parlamente.

Ohne eine umfassende Revision des Lissabon-Vertrages wird das nicht zu haben sein. Wichtig ist es, den Druck der Finanzindustrie auf Wirtschaft und Gesellschaft zu reduzieren. Dazu muss die wachsende Umverteilung von unten nach oben umgekehrt werden. Eine Lohnpolitik, die den Binnenmarkt nachhaltig stärkt, ein gesetzlicher Mindestlohn auf Basis von 60 Prozent des nationalen Durchschnittseinkommens in Europa und ein armutsfestes Mindesteinkommen gehören zum Gegenkonzept ebenso wie die Besteuerung hoher Einkommen und Gewinne, die Stabilisierung der öffentlichen Renten- und sozialen Sicherungssysteme sowie der Schutz der öffentlichen Daseinsvorsorge vor Profitinteressen.

Bei der Regulierung der Finanzmärkte fehlt es nicht an Lippenbekenntnissen – an der Umsetzung schon. EU-Kommission und EU- Parlament wollten eine striktere Finanzmarktaufsicht. Dagegen formierte sich heftiger Widerstand. London, Madrid und Berlin gingen die vorgeschlagenen Regelungen und die Kompetenzen der EU- Aufsichtsorgane zu weit. Diese wurden stark verwässert, befürchtet man doch direkte Eingriffsrechte auf die nationale Ebene.

Auch die Widerstände der Finanzlobbyisten zeigen Wirkung. Die strikte Regulierung der Finanzmärkte findet voraussichtlich nicht statt – nicht in der EU und nicht in den G20. Das System soll künftig nur ein klein wenig «unfallfreier» funktionieren. Dadurch wird die nächste Krise schon vorbereitet. Die Nationalökonomien werden die künftigen Schläge der Finanzspekulanten kaum ohne noch massivere Folgen für die Menschen ihrer Länder verkraften können – oder wollen.

Eine verbale Verteufelung des Finanzkapitalismus hilft nicht weiter. Sie reicht genauso wenig wie der Glaube, ein bisschen mehr Regulierung führe zur Krisenvermeidung und zur Bändigung des Kapitalismus. Finanzinvestoren sind die wichtigsten und effizientesten Vollstrecker des Rollback gegen soziale und politische Errungenschaften nach 1945. Mit dessen Verschärfung ist zu rechnen. Die strikte Regulierung der Finanzmärkte wäre lediglich ein erster Schritt zum Status quo ante. Ohne politischen Druck in den Mitgliedsstaaten, im Europaparlament und vor allem aus der Zivilgesellschaft heraus wird selbst das nicht zu erreichen sein.

Erschienen in "rosalux" - Journal der Rosa-Luxemburg-Stiftung 3-2010