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08.10.2014, Thomas Händel

Ohne neue Arbeit kein Ende der Krise

Thomas Händel fordert eine echte Wende in der europäischen Beschäftigungspolitik statt Schaufensterveranstaltungen

Die neue EU-Kommission unter Führung von Jean-Claude Juncker lässt manche schon von einer bevorstehenden Zeitenwende in der Europäischen Politik träumen. Immerhin: bereits in den ersten drei Monaten der Amtszeit der neuen Kommission will Juncker ein Investitions- und Jobpaket von zusätzlichen 300 Milliarden Euro auflegen. Fördertöpfe sollen leichter zugänglich werden, die Europäische Investitionsbank soll einfacher und schneller mehr Kredite vergeben können. Die 28 Mitgliedstaaten sollen deren Eigenkapital erhöhen. Hat da einer verstanden? Es wäre zu hoffen!

Die europäische Beschäftigungs- und Sozialbilanz ist eine Katastrophe: Arbeitslosigkeit auf Rekordniveau, mehr als ein Viertel der Menschen in Europa leben in Armut oder sind armutsgefährdet. Immer weniger Menschen in Europa sind unbefristet beschäftigt mit Löhnen über der Armutsgrenze. Prekarität frisst sich wie ein Krebsgeschwür durch die Gesellschaft. Das Ziel, die Beschäftigung bis 2020 auf ein Niveau von 75 Prozent zu bringen, ist meilenweit entfernt. Das ist der »Erfolg« der scheidenden EU-Kommission und Junckers größte Herausforderung.

Allerdings: »Weniger Regulierung und mehr Flexibilität« (Juncker) klingt auch nach der Werkzeugkiste der wirtschaftsliberalen Verwüstungen der letzten Jahre. Über öffentliche und private Unternehmen sollen Investitionen akquiriert werden. Dies ist die Fortführung der alten Politik, wenn nicht deren Forcierung: Privatisierung bis hin zur Daseinsvorsorge etwa in neuen Freihandelsabkommen wie TTIP, CETA und TISA findet hier ihre logische Entsprechung.

Es hat Sinn nachzudenken, wie Billionen Euro, die durch die gigantische Umverteilung von unten nach oben in die »Märkte« des vagabundierenden, vor allem aber spekulierenden Kapitals geflossen sind, wieder gesellschaftlich nutzbar gemacht werden können. Der Ausverkauf öffentlicher Güter mit der Garantie langjährig gesicherter Profite für Privatinvestoren ist aber der Bankrott gesellschaftlicher Gestaltung durch die Politik.

Die Alternative, die Juncker allenfalls rudimentär denkt, wäre eine neue Steuer- und Finanzpolitik. Nur eine höhere Besteuerung der Reichen, Bekämpfung von Steuerflucht und -hinterziehung, gemeinsame europäische Mindeststeuersätze etc. würden die EU in die Lage versetzen, ein ambitioniertes europäisches Investitionsprogramm aufzulegen.

Vordringlichste Aufgabe ist die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, insbesondere der Jugendarbeitslosigkeit. »Jugendgarantien« werden das aber nicht bewerkstelligen. Die 18 Pilotprojekte, die jüngst von der Kommission als Erfolge gepriesen wurden, sind zwar ein Anfang. Das Programm ist jedoch nach Studien der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) erheblich unterfinanziert. Auch die derzeitige italienische Ratspräsidentschaft hält es lediglich für einen Tropfen auf den heißen Stein. Ohne neue Arbeit wird die Katastrophe lediglich kaschiert.

Dafür müssten »neue, nachhaltige und arbeitsplatzfördernde Projekte« (Juncker) in einer sozial-ökologischen Wende der europäischen Wirtschafts- und Industriepolitik münden und an nachprüfbare Beschäftigungsziele gekoppelt werden. Beschäftigung ist schließlich der wichtigste volkswirtschaftliche Faktor in den Mitgliedsstaaten. Mit Entlassungen, Kürzung von Löhnen, Renten und Sozialleistungen spart man seinen Schulden nur hinterher. Das Sparen konsumtiver und investiver Staatsausgaben - sie verkörpern rund 20 Prozent des europäischen Bruttoinlandsprodukts - gibt dem Ganzen dann den Rest.

Ein Europäischer Beschäftigungsgipfel, wie er für diesen Mittwoch ausgerufen wurde, müsste mutig die dringend nötigen Konsequenzen ziehen. Zu befürchten ist aber eine ähnliche Schaufensterveranstaltung wie andere EU-Gipfel auch. Dringend nötig wären Schritte vor allem gegen die Umgehung des Arbeitnehmerschutzes z. B. bei Entsendung, Scheinselbstständigkeit, missbräuchlicher Werkvertragsvergabe und neuer »Tagelöhnerei« über Null-Stunden-Verträge sowie für ein europäisches Mindestlohnniveau. Eine neue europäische Arbeitszeitrichtlinie müsste die positiven Wirkungen der bisherigen Richtlinie verstärken und für eine bessere Verteilung der Arbeit sorgen.

Ein europäischer Arbeitsmarkt braucht verstärkt gemeinsame und starke Arbeitsrechte, wirksame Maßnahmen gegen sozialen Rückschritt. Das Prinzip »Gleicher Lohn und gleiche Rechte für gleiche Arbeit am gleichen Ort« - das wäre der Gipfel!

Dieser Artikel erschien zuerst am 8. Oktober 2014 in der sozialistischen Tageszeitung Neues Deutschland.