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02.07.2015, Thomas Händel

Flexibel zur Entgrenzung

Thomas Händel über Forderungen, die EU-Arbeitszeitgesetzgebung an die Wünsche der Unternehmen anzupassen

Sie beginnt wieder: die Debatte um die Arbeitszeit, die so alt ist wie die Industriegeschichte. Karl Marx schrieb und beschrieb schon vor fast 150 Jahren den »Kampf um den Normalarbeitstag«, der auch heute immer noch mehr ist als eine ganz normale Auseinandersetzung um die Arbeitsbedingungen. Es geht auch heute noch um die Verfügungsgewalt über die menschliche Arbeitskraft. Manchem schien das längst passé wenn nicht gar antiquiert, arbeiten doch viele heute völlig unbegrenzt und ohne Ende. Gesund und gesellschaftlich vernünftig ist das nicht.

Den Arbeitgebern ist der Zugriff auf die menschliche Arbeitskraft trotzdem nicht weitreichend genug. Nach ihrem Geschmack existieren noch viel zu viele Schutzvorschriften in Gesetzen und Tarifverträgen. Während sich die Arbeitgeberseite längst auf den Weg gemacht hat, die Arbeitszeitgesetzgebung auf europäischer Ebene noch weiter zu »liberalisieren«, haben auf Gewerkschaftsseite viele den berühmten »Schuss« noch nicht gehört.

Businesseurope, der europäische Arbeitgeberverband, hat längst seine Positionen weit gestreut. Arbeitszeit soll neu definiert werden, um nicht nur bei den Ärzten die Bereitschaft am Arbeitsplatz nicht mehr (voll) bezahlen zu müssen. Die Begrenzung der Wochenarbeitszeit auf 48 Stunden soll individuell leichter umgangen werden können (»opt-out«). Die Wochenarbeitszeit soll angehoben, der Bezugszeitraum für mehr Flexibilität ausgedehnt und Ruhezeiten flexibel - wohl auf beschäftigungsarme Zeiten - verschoben werden können. Alles in allem: Arbeit soll noch flexibler an die Wünsche der Arbeitgeber angepasst werden können und dabei auch noch billiger werden.

Schon heute werden in vielen Kommunen die Flexibilisierungsmöglichkeiten des bestehenden Arbeitszeitgesetzes genutzt, um »die Funktionsfähigkeit von Diensten zu gewährleisten« - nicht nur im Gesundheitswesen. Doch damit nicht genug. Die Arbeitgeber fordern neue, besondere Arbeitszeitregelungen, die angeblich auch ein Großteil der Beschäftigten befürworte. In einem kürzlich veröffentlichten Papier referieren sie als Beleg eine bereits existierende Arbeitszeitregelung, die es Arbeitnehmern möglich mache, an nur zehn Tagen im Monat Dienst zu haben und schwärmen über »eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, flexiblere Freizeitgestaltung und kürzere Arbeitswege.« Wenn ein aufmerksamer Gewerkschaftssekretär nachrechnete und auf eine 18-Stunden-Schicht zur Erfüllung einer 48-Stunden-Woche kämme, er würde wohl die Gewerbeaufsicht um Überprüfung bitten. Angenommen aber das zitierte Arbeitszeitmodell entspräche den rechtlichen Bestimmungen der Arbeitszeit: Welchen Grund gibt es dann, noch mehr Flexibilität einzufordern?

Wer aus der Praxis 4-Tage-Schichtmodelle mit weit über acht Stunden hinausgehende Tages- und Nachtarbeitszeiten kennt, weiß über die Begeisterung der Beschäftigten hinsichtlich der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie über die gesundheitlichen Folgen lange Geschichten zu erzählen.

Das deutsche Arbeitszeitrecht - fußend auf der europäischen Arbeitszeitrichtlinie - lässt bereits heute ein erhebliches Maß an Flexibilität zu. Ob das besonders gesund ist, ist mehr als fraglich. Ob etwa ein Chirurg in der 60. Arbeitsstunde noch die nötige Konzentration aufbringt, mag eine künftige Analyse der hohen Zahl von Operationsfehlern belegen.

Viele Menschen arbeiten bereits heute am Limit oder deutlich darüber. Vermutlich hat die Zahl der psychischen und psychosomatischen Erkrankungen in Europa damit zu tun, unter denen nach Untersuchungen ein Drittel (!) der europäischen Bevölkerung leidet. Eine moderne europäische Arbeitszeitrichtlinie müsste daher alle physischen und psychischen Belastungsfaktoren erfassen, vor langen und unregelmäßigen Arbeitszeiten schützen, neue Formen flexibler und prekärer Arbeit einbeziehen und vor allem bessere und wirksame Kontrollen schaffen - besonders in Deutschland wurden seit Jahren Kontrolleure massiv abgebaut. Und eine solche europäische Gesetzgebung müsste die maximale Wochenarbeitszeit in Richtung 40 Stunden reduzieren.

Längst konkurrieren Unternehmen heute nicht mehr nur über bessere Produkte. Löhne und Sozialleistungen sind wieder stärker Ziel der Profitmaximierung. Nun auch noch die Arbeitszeit ins Visier zu nehmen, wäre ein weiterer Schritt in der Spirale nach unten.

Dieser Artikel erschien zuerst am 2.7. in der sozialistischen Tageszeitung Neues Deutschland.