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05.11.2012, Thomas Händel, Frank Puskarev

Solidarität statt Konkurrenz

Überlegungen zu ganzheitlichen europäischen Modellen politischer und wirtschaftlicher Steuerung

Artikel erschienen in der Zeitschrift Sozialismus Heft 11/2012

Wir erleben derzeit eine beschleunigte und immer autoritärere Krisenbewältigungsstrategie, die mit Kürzung der Arbeits- und Sozialeinkommen, Spardiktaten und dem verordneten Ausverkauf öffentlichen Eigentums geradewegs in die wirtschaftliche Rezession führt. Nicht nur die Länder Südeuropas sind von einer wirtschaftlichen Talfahrt erfasst; auch in den bisher prosperierenden Staaten sind die Auswirkungen dieser verheerenden Austeritätspolitik bereits spürbar. So wurde erst kürzlich vermeldet, dass die europäische Autoindustrie, in der Regel ein guter Indikator für Konjunkturentwicklungen, Verkaufseinbrüche um 11 Prozent zu verkraften hat. In den Krisenländern des Südens sieht es sogar noch weit schlimmer aus, Italien (minus 25 Prozent), Frankreich (minus 17), Spanien gar minus 37 Prozent. Auch Deutschland, das sich bisher noch auf der Seite der Gewinner wähnt, hat nach herben minus 30 Prozent in 2010, die vor allem in Zusammenhang mit der Abwrackprämie standen, erneut mit Einbrüchen um die 11 Prozent zu kämpfen[1]. Wenn also selbst der deutsche Autoindustrie-Motor deutlich vernehmbar stottert, muss es schlecht stehen um wirtschaftliche Entwicklungen.

Europa droht in wirtschaftlicher Depression und sozialer Ungleichheit zu versinken. Die Arbeitslosenquote lag im August 2012 bei 10,5 Prozent und markiert damit den höchsten Stand seit Bestehen der Europäischen Gemeinschaft. Gerade junge Menschen sind von den Folgen der Krise betroffen. In diesem Bereich ist die Quote wesentlich höher, europaweit bei 22,7 Prozent, im krisengeschüttelten Griechenland sind gar mehr als die Hälfte aller jungen Menschen ohne Job. Insgesamt rund 14 Mio. junge Menschen unter 30 in Europa, denen man eine vernünftige Perspektive und Lebenschancen verwehrt. Armut ist nicht mehr nur ein Randgruppenthema, Armut kommt gerade in der Mitte der Gesellschaft an[2].  

Europa braucht dringend einen radikalen Politikwechsel, will man vermeiden in einem wirtschaftlichen, sozialen und, so steht zu befürchten einem politischen Desaster zu enden. Die Beispiele von Ungarn, Griechenland und anderen Ländern weisen die Richtung[3], in die es gehen kann und wird.  

Parallel zur Krise in Europa und darüber hinaus laufen denn auch in der europäischen gesellschaftlichen Linken, die übrigens weit über die sozialdemokratischen, grünen und kommunistisch-sozialistischen Parteienfamilien hinausgeht, lebhafte Debatten, wie der aus den Fugen geratene kapitalistische Wertschöpfungs- und damit Ausbeutungsprozess wahlweise wieder in eine soziale Form gegossen und/ oder sofort oder in einem Transformationsprozess überwunden werden kann. Für notwendige Reregulierungen und die komplette Neuorganisation des Finanzsektors liegen mal mehr, mal weniger fundierte Vorschläge auf dem Tisch. Die Gründungsfehler und die Verfasstheit Europas sind hinlänglich debattiert und kritisiert. Defizite bestehen allerdings in der Frage ganzheitlicher Modelle einer zukünftigen politischen und wirtschaftlichen Steuerung eines Europas, das nach einhelliger Meinung zumindest der linken Seite des politischen Spektrums wenigstens sozial, beschäftigungsorientiert, nachhaltig und demokratischer organisiert sein soll.  

Angesichts der Dimensionen reicht es allerdings nicht, ein rein die Konjunktur stimulierendes Programm aufzulegen und im Übrigen einfach weiter zu machen wie bisher. Auch die simple Forderung nach einer „Wirtschaftsregierung“ ist, bleibt sie auf der Basis der bisherigen Verfasstheit der EU, nichts weiter als die Forderung nach einem neuen Türschild für eine weitere neoliberale Institution. Längerfristige integrierte Wachstums- und Entwicklungsperspektiven sind für ein zukunftsweisendes Konzept für Europa unverzichtbar.   Notwendig ist die Entwicklung eines integrierten Konzeptes demokratisch kontrollierter wirtschaftlicher Zukunftsentwicklung für Europa, das bestehende Elemente von Industrie- und Dienstleistungspolitik, von Struktur- und Kohäsionspolitik einschließt, auf ihnen aufbaut und sie in wesentlichen Teilen ergänzt. Das dies nicht – wie von der S&D-Fraktion im EP gefordert[4] – einer Task-Force aus der EU-Kommission überlassen werden darf, scheint offensichtlich: betrachtet man die Ergebnisse der Troikapolitik in Irland, Griechenland, Italien, Spanien und Portugal, will man damit den neoliberalen Bock zum sozialistischen Gärtner machen.  

Will man also dauerhaft weg von einem Konkurrenz-Europa zu einem Solidaritäts-Europa resp. einem Ausgleichseuropa[5], sind zusätzliche Elemente einer starken wirtschaftspolitischen Koordinierung und Steuerung erforderlich, die nicht nur die Wettbewerbsfähigkeit der ins Hintertreffen geratenen Länder wieder „an das Feld heranbringt“, sondern darüber hinaus und in erster Linie soziale Gerechtigkeit, gute Arbeit und gleichwertige Lebensverhältnisse schafft und transformatorischen Charakter im Sinne neu zu entwickelnden gesellschaftlichen Zusammenlebens entfaltet. Diese Elemente, dieser ganzheitliche Ansatz sind bisher der „missing link“ in der europäischen Debatte.  

Eine Schlüsselrolle dabei spielt die Industriepolitik, wie auch die EU-Kommission im Jahr 2005 schon feststellte: Man müsse „das Verständnis von Industriepolitik weiter [...] fassen und diejenigen Maßnahmen einbeziehen, die sich auf Kosten, Preise und die innovative Wettbewerbsfähigkeit der Industrie und einzelner Branchen auswirken, aber auch alle anderen politischen Initiativen berücksichtigen. [...] Das schließt nicht nur Maßnahmen für Binnenmarkt und Handel ein, sondern auch für die Bereiche Verkehrswesen, Energie, Umweltschutz, Soziales und Verbraucherschutz.“[6] Das wäre neu gewesen, nach jahrzehntlangem Mantra der vorherrschenden wirtschaftspolitischen Vorstellung, die Märkte würden schon selbst die besten (ökonomischen) Lösungen produzieren, schaffe man nur genügend „Freiheit“. In 2012, also 7 Jahre später, muss der zuständige Kommissar Tajani eingestehen, dass "wir verpflichtet gewesen wären, die Realwirtschaft in den Mittelpunkt der Wirtschaftspolitik zu setzen. Wir haben in der Vergangenheit den Fehler gemacht, Finanzökonomie und Dienstleistungen in den Mittelpunkt zu stellen. Wir schoben Industrie und Unternehmen in eine Ecke. Aber wir haben genau das Gegenteil zu tun: Industrie und Unternehmen in den Mittelpunkt zu rücken und mit der Finanzökonomie die Realwirtschaft zu unterstützen."[7]  

Diese Einlassung markiert zweierlei: ersten das Eingeständnis, in den letzten Jahren bei der Ausrichtung der Politik vollständig versagt zu haben. Und zweitens, dass dieser Einsicht nun Taten folgen sollten. Denn: offensichtlich begreift man nun auch in der EU-Kommission die Schlüsselrolle der industriellen Bereiche die rund 25 Prozent der Wertschöpfung in Europa liefern. Von "maßgeschneiderten Konzepten auf jeden Zweig, [...] einer neuen Politik der industriellen Innovation, Berücksichtigung der gesamten Wertschöpfungs- und Lieferkette, die weitere Förderung des Einsatzes und der Vermarktung von wettbewerbsfähigen Schlüsseltechnologien, Modernisierung der Qualifikationsbasis" war schon in 2005 die Rede.  

Die EU-Industrie müsse ihren Übergang zu einer kohlenstoffarmen und ressourcen- und energieeffizienten Wirtschaft beschleunigen, was Kosten und Umweltauswirkungen verringern kann. Doch weit gefehlt: auch der Bericht der Kommission zur Aktualisierung dieser Industrie-Strategie vom Oktober 2012 stützt sich auf altbekannte Säulen: Investitionen in Innovationen, bessere Marktbedingungen und Bürokratie-Abbau, Zugang zu Kapital und Humanressourcen sowie Qualifikationen[8]. Also alter Wein in alten Schläuchen mit dem irreführenden Etikett "Neu!".   Insbesondere hinsichtlich der Beschäftigung bleibt es bei den schlecht sitzenden Kinderschuhen einer mit der EU2020-Strategie kompatiblen „Verbesserung der Funktionsweise der EU-Arbeitsmärkte und die Gewährleistung geeigneter Qualifikationen der Arbeitnehmerschaft.“ Nicht etwa die Schaffung neuer, guter Arbeit, sozialer Sicherheit steht im Zentrum oder mindestens auf gleicher Augenhöhe, sondern die Verfügbarkeit von Arbeitskräften nach Bedarf mit verwertbaren Qualifikationen.  

Schließlich geht es der EU-Kommission, trotz aller gegenteiligen Beteuerungen, auch nicht um soziale Wohltaten. Im altbekannten Wording verbleibend diskutiert die Kommission „...die Erschließung neuer Märkte, [...] die schnellere Entwicklung und Vermarktung von Waren und Dienstleistungen" Wesentlich soll sein, "dass EU-Unternehmen als erste auf den globalen Markt kommen und dadurch ihre Wettbewerbsfähigkeit steigern." Auch um Globalisierung macht man sich weiterhin Gedanken, nicht jedoch so wie man nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte annehmen können sollte: "Um den größtmöglichen Nutzen aus der Globalisierung zu ziehen, wird die Kommission internationale Initiativen für die Regulierungszusammenarbeit entwickeln...“ heißt es verschwörerisch wie zunächst nichtssagend. Wie die „Regierungszusammenarbeit“ praktisch aussieht, bekommen die Länder Afrikas derzeit zu spüren. Mit nahezu neokolonialen Methoden wird hier der europäische Marktzugang regelrecht erpresst, der Kampf um die verbliebenen Rohstoffe nimmt an Aggressivität deutlich zu[9].  

Wichtige Fragestellungen, z. B. wie kurzfristig auf wirtschaftliche Ungleichgewichte reagiert werden kann, wie sie dauerhaft vermieden werden können, welche mittel- und längerfristigen Instrumente gegen einen Absturz einzusetzen wären oder gar wie eine nachhaltige beschäftigungsorientierte Strategie ersonnen und demokratisch legitimiert werden könnte sind nicht die Fragen, die man sich in den neoliberalen Elfenbeintürmen von Rat und Kommission stellt.  

Gerade deshalb ist dies Aufgabe der Linken in Europa. Dazu gilt es, Ansätze einer alternativen, beschäftigungsorientierten und demokratisch kontrollierten Konzeption weiter zu entwickeln. Bausteine dafür gibt es an vielen Stellen, nur müssen diese eben auch zusammengefügt, miteinander verknüpft und zu einem integrierten Ganzen entwickelt werden.  

Immerhin: in einem wesentlichem Ansatzpunkt besteht hinreichende Klarheit: Überschussländer müssen durch die Stärkung der Massenkaufkraft mittels offensiver Tarifpolitik und der Erhöhung der Sozialeinkommen zu einer Verringerung der Exportüberschüsse beitragen. Ob dies im Volumen und vor allem in kurzer Frist allein ausreicht ist eher zu bezweifeln. Beachtlich, wenn auch nicht ausreichend, sind auch die Vorschläge zu einer konsequenten dauerhaften Regulierung von Außenhandelsüberschüssen und -defiziten, ohne die eine Lösung nicht denkbar wäre. Sie sind ein wesentliches Problem der innereuropäischen Wirtschaftsungleichgewichte, die auf Dauer zu einer Selbstzerstörung der europäischen Integration führen würden.  

Dass dieses Thema bis in konservative Kreise hinein zumindest einen Anfangsverdacht ausgelöst hat, zeigen die Debatten um die EU-Regulierungen der „Economic Governance“. Zwar konnte die nun dort verankerte und völlig kontraproduktive Bestrafung von Defizitländern nicht verhindert werden. Nach erheblicher Anstrengung der Linken enthält diese Governance nun aber auch eine Betrachtung der Überschussländer, die, im Gegensatz zu den Defizitländern, allerdings und leider keinerlei Ungemach sanktioneller Art zu erwarten haben[10]. Hier gilt es, in den nächsten Monaten nachzusetzen.  

Axel Troost liefert mit dem fundierten Konzept einer „Ausgleichsunion“[11] eine ausgezeichnete Vorlage. Dieses stellt darauf ab, auch die Länder mit hohen Leistungsbilanzüberschüssen für die Herstellung und Einhaltung eines außenwirtschaftlichen Gleichgewichts in Verantwortung zu nehmen. Nach kurz- und mittelfristig zulässigen Exportschwankungsbreiten würden bei langfristig überhöhten Leistungsbilanzüberschüssen Sanktionen in Form von Strafzahlungen fällig, die dann einem Fonds zufließen sollen, dessen Aufgabe "die Förderung eines auf den Ausgleich der Leistungsbilanzen gerichteten Strukturwandels in Überschuss- und Defizitländern“ wäre.  

Dazu müssten Investitionsprogramme aufgelegt werden, die die Verschuldung nicht weiter erhöhen. Diese müssten durch die Europäische Union im Rahmen der im Weiteren skizzierten Entwicklungsfonds finanziert werden. Das würde nach Berechnungen des IMK[12] zu einer deutlichen Erhöhung des Wachstums und damit erheblich zu einer längerfristigen Verringerung der Verschuldung beitragen. Dazu braucht es aber "... eine deutliche wirtschaftspolitische Umorientierung im gesamten Euroraum".  

An der notwendigen finanziellen Ausstattung würde es also mit dieser Zuführung kaum fehlen. Rechnet man die schon bestehenden Möglichkeiten europäischer Fördermittel in Höhe, die Zuführungen aus einer europäischen Finanztransaktionssteuer, einer europaweiten Vermögensabgabe bzw. Millionärssteuer[13], Krediten zu Konditionen des EZB-Zinssatzes durch die Europäische Investitionsbank und ggf. Projektbonds für größere Projekte zusammen, wäre sogar kurzfristig eine „feuerkräftige“ Finanzausstattung gut darstellbar. Der von den Experten des DGB in einem Entwurf[14] bezifferte Finanzbedarf für einen europäischen „Mashallplan“[15] von rund 260 Mrd. € pro Jahr wäre sichergestellt.  

Die vorgeschlagenen Maßnahmen darin betreffen - neben der oben erwähnten Stärkung der Massenkaufkraft und der damit verbundenen kurzfristigen Konjunkturstimulanz - einen policy mix verschiedener mittel und langfristig wirkender Elemente, zu denen verstärkte öffentlichen Investitionen, Investitionszuschüsse und ein europäischer Zukunftsfond gehören. Mit ihnen sollen die Stärkung und Förderung moderner Industrien und Dienstleistungen genauso wie gesellschaftlich notwendiger bildungs-, sozial- und klimapolitische Weichenstellungen und qualitative Wachstumsziele gefördert werden.  

Mehr als die Hälfte der vorgeschlagenen Maßnahmen richten sich auf die europäische Energiewende. Die Investitionen in eine Co2-arme Energieversorgung von 150 Mrd. per anno induzieren nicht nur 110 Mrd. zusätzliche Investitionen. In dem DGB-Szenario auf Basis einer Berechnung des DIW[16] wird ein langfristig 6 – 7mal höherer Beschäftigungseffekt als bei vergleichbarer Versorgung mit Öl – und Gasvorkommen beziffert. Rund 11 Mio. neue Arbeitsplätze werden vorhergesagt. Diese Entwicklung würde wesentlich höhere direkte und indirekte Steuereinnahmen, höhere Sozialversicherungsbeiträge und geringere Ausgaben für Arbeitslosigkeit produzieren. In der Modellrechnung werden 180 Mrd. an Mehreinnahmen und Einsparungen erwartet. Finanziert werden sollen in diesem Modell die Investitionen durch jährliche Einahmen aus einer Finanztransaktionssteuer mit bis zu 100 Mrd., aus Kreditförderung mit rund 100 Mrd. und aus sog. „New Deal Anleihen“ mit rund 180 Mrd. Eine solche Zukunftsanleihe braucht bei Gründung zunächst Eigenkapital. Dies wäre durch eine europaweite Vermögensabgabe von 3% auf Geldvermögen über 500000 € bzw. 1 Mio. zu finanzieren.  

Selbst Wolfgang Streeck, Soziologe und Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, schließt nicht aus, dass die wesentlichen Triebfedern für einen neuen Kondradieffschen langwelligen Konjunkturzyklus gelegt sind[17]. Die Schlüsselbereiche CO2-freier Technologien, Energieversorgung und die Elektromobilität liefern dafür die Plattform. Bereiche, in denen die entwickelten kapitalisitischen Länder Europas enorme Platzvorteile haben während die zurückgeworfenen und industriell wenig entwickelten Länder Europas weitaus schlechtere Chancen aufweisen. Zwei Entwicklungspfade tun sich auf:  

Entweder die Letzteren werden auf den Stand von Subsidiaritätswirtschaft und des Arbeitskräfttelieferanten von "Brauchbaren" zurückgeworfen, also quasi “Hartz-IV Staaten”, wie der Zeit-Herausgeber Josef Joffe sie kürzlich nannte[18]. Nachdem EU, EZB und IWF schon Griechenland mit moderner Kapitalvernichtung zunächst auf Schwellenland-Niveau zurückgeworfen haben, scheint sogar ein begrenzter Aufschwung ist vorstellbar. Wirtschaftsminister Röslers Einkaufstour mit hochrangigen Wirtschaftsvertretern in 2011 nach Griechenland läßt grüßen. Vernichtete Sozialsysteme und Billiglöhne für verarmte Arbeitnehmerschichten, die jeden noch so unwürdigen Job annehmen, sind ein Standortindikator für so manchen Kapitalgeber.   Verbunden mit den genannten Schlüsselbereichen würde daraus allerdings ein neuer, diesmal grün angemalter Kapitalismus mit autoritärem Gestus.

Die von Rat, Parlament und Kommission installierten neuen Verfahren zur Reduzierung der wirtschaftlichen Ungleichgewichte der Euroländer, verkauft als Instrumente zur Anpassung ihrer Wettbewerbsfähigkeit, beschneiden essenzielle Rechte von Gewerkschaften und Arbeitnehmern und sind damit eher „Instrument zur autoritären Demontage der Sozialstaatlichkeit“, wie der Arbeits- und Wirtschaftsrechtler Florian Rödl in einem Gutachten für das Hugo-Sinzheimer-Institut der Otto-Brenner-Stiftung schreibt[19].  

Oder aber die EU besinnt sich auf ihren eigenen Vertragsverabredungen z.B. aus § 3 EUV und § 151 AEUV mit der Verpflichtung zur Sozialstaatlichkeit und langfristigen Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse. Das wäre nur durch die Neudefinition europäischer Entwicklungsmodelle zu erreichen. Die Entwicklung einer industriellen Basis, die auf gleicher Augenhöhe zwischen den entwickelten kapitalistischen Zentren Europas Handel treibt bzw. miteinander konkurriert, ist aber weder ökonomisch vorstellbar noch in Bezug auf eine nachhaltige Verbrauchs- und Rohstoffpolitik wünschenswert. Niemand hielte wohl für Griechenland die Entwicklung einer Automobil- oder Maschinenbauindustrie auf deutschem oder, etwas abgeschwächt, auf französischem Niveau für realistisch. Einige Länder werden wohl noch sehr lange auf Importe von Investitionsgütern angewiesen sein. Sie in die Lage zu versetzen, diese ohne Staatsverschuldung mit eigenen Einkommensquellen - Gütern und Dienstleistungen mit Handels- respektive Marktpotential - zu finanzieren, wäre die Aufgabe einer integrierten europäischen Wirtschafts- , Finanz- und Industriepolitik, die ihre eigenen Vertragsverpflichtungen ernst nimmt.  

Denk- und machbar wäre eine europäische Clusterpolitik im Sinne der Zusammenarbeit von miteinander verbundenen Unternehmen, Zulieferern, Dienstleistern und Forschungsstellen. Diese gibt es auf regionaler und nationalstaatlicher Ebene schon lange. Ihre Stärken wurden aber bisher politisch nur eben auf dieser Ebene gefördert. Sie haben damit auch zur Konkurrenz von Volkswirtschaften (nicht nur) auf europäischer Ebene beigetragen. Ihre Vorteile bei der gemeinsamen Nutzung von Ressourcen und Fachwissen für Unternehmen, Beschäftigte und Regionen auch auf europäischer Ebene zu nutzen wäre ein weiteres Instrument, eine ausgeglichenere Industrie- und Handelsentwicklung zu fördern.Dazu wären nicht nur bessere Informationen über nationalstaatliche verfasste Stärken in den europäischen Mitgliedsstaaten, eine bessere Synergieentwicklung bereits auf europäischer Ebene vorhandener und die Entwicklung neuer Förderungsansätze wie auch eine gemeinsame Steuerung derartiger Entwicklungsprozessen nötig. Sie nicht nach Austeritätsprinzipien zu konditionieren, sondern nach sozialen, beschäftigungspolitischen und nachhaltigen Kriterien erfordert aber ein anderes, demokratisch kontrolliertes Modell einer Europäischen Wirtschaftslenkung - und das Primat demokratischer Politik.  

Die starke Akzentsetzung auf die Energiewende sei an dieser Stelle mit wenigen praktischen Beispielen bebildert: Griechenland will und muss seine Re-Industrialisierung auch selbst in die Hand nehmen. Die Produktion von Solarstrom ist deshalb eines der Leitprojekte, von dem nicht nur die Regierung in Athen die Schaffung von 60.000 Arbeitsplätzen und rund 15 Mrd. Staatseinnahmen erwartet[20]. Damit verbunden wären zudem die Reduzierung von Energieimportkosten und die Erlöse aus dem Export von Solarstrom. Durch technische Umrüstung könnten via italienische und mazedonische Stromnetze rund 10 Gigawatt in europäische Stromnetze fließen.  

Das Projekt „Helios“ erfordert Investitionen in Anlagen und Stromtrassen – für die im griechischen Staatshaushalt nach allen bekannten und weniger bekannten Austeritätsexzessen derzeit wohl kaum genügend Geld aufzutreiben ist. Der Staat bräuchte also Investitions- und Technologiehilfen aus Europa. Eine eigene Solarindustrie existiert nicht. Weiteres Volumen und Arbeit nicht nur in der Windkraft, für die Griechenland einen besonders ergiebigen Standort darstellen würde und in eine dezentrale Energieversorgung in der Hand von Kommunen und Regionen könnten zusätzlich Arbeit für zehntausende Menschen in der Region schaffen. Weitere Entwicklungspotentiale für die Schaffung von Arbeitsplätzen und Steueraufkommen liegen in den griechischen Potentialen für Schiffbau, in der Modernisierung des wichtigsten Mittelmeerhafens in Piräus, im Tourismus, der Transportbranche und in der Pharmaindustrie[21].  

Aber: eine schnelle Umsetzung einer solchen qualitativ neuen Politik ist eher nicht zu erwarten. Deutschland unter Merkel bremst schon bei Helios – wohl auch zur Wahrung der Interessen der großen Energieversorger. Es fehlen nicht nur der politische Wille, die notwendige Instrumentarien und die entsprechenden Einflussmöglichkeiten. Auf europäischer Ebene sind nicht nur bis zu 10 Generaldirektionen auf Ebene der Kommission zuständig, demokratische Initiativrechte für Parlament und den Rat der Regionen diesbezüglich fehlen.  

Ein weiteres Beispiel liefert die Frage der Speichertechnologien. Für die Speicherung von Strom aus erneuerbaren Energien, die in in der Regel verbrauchsschwachen Zeiten erzeugt werden, oder aber für Stromspitzen aus Überschussproduktion fehlen u. a. in Deutschland ausreichende Möglichkeiten und entsprechende Technologien[22]. Norwegen verfügt über genau diese Speichermöglichkeiten in Wasserkraft, sogar 2000mal größer als die deutschen. Rund 60 AKWs in Europa wären alleine damit überflüssig zu machen. Aber die Genehmigung des dafür nötigen Leitungsbaus zwischen Deutschland und Norwegen wurde und wird von der Bundesregierung über Jahre verschleppt. Ein Schelm wer Böses dabei denkt und die Interessenvertretung von deutschen Atomkonzernen durch die Bundesregierung vermutet.  

Immerhin: ein norwegischer Konzern plant nun den Bau einer Leitung. Abgesehen davon, dass ein Dutzend nötig wäre, und zwar nicht in Regie und ausschließlich für den Profit von privaten Großinvestoren, zeigen diese Beispiele sehr deutlich, dass man dieser Verquickung politischer und wirtschaftlicher Interessen nur mit einem ganzheitlichen Ansatz und entsprechender öffentlicher Finanzierung glaubwürdig etwas entgegensetzen kann.  

Die nach wie vor notwendige Energiewende stärker für eine regionale, arbeitsplatzintensive und demokratisch kontrollierte Energieversorgung zu nutzen, auch dafür gibt es gute Vorschläge. Der Masterplan der LINKEN in Thüringen ist ein detailliert ausgearbeitetes Beispiel dafür. Ein dreidimensionales Maßnahmenpaket zum Aufbau einer Energiewirtschaft auf Basis erneuerbarer Energieträger, einem Energieeinsparkraftwerk und einer landesweiten Energiedienstleistungsstruktur, die einem Wirtschaftsförderungsprogramm gleichkommt, hat die LINKE ein Beispiel für eine alternative regionale Konzeption geliefert[23].  

Dieser Plan ist das bislang umfassendste Konzept zur Regionalisierung und Rekommunalisierung von Energieversorgung. Kraft-Wärmekopplung, Ausbau der solaren und windkraftbasierten Energieversorgung, Energieeinsparung, die Förderung von Wirtschaftsinitiativen, Forschungsförderung und die Schaffung von Arbeitsplätzen in einem Konzept bilden eine Konzeption, die mit einer an entsprechende Kriterien gebundene europäischen Förderung aus den oben genannten europäischen Fonds unterstützt werden sollte.  

Ein integriertes Konzept demokratisch kontrollierter wirtschaftlicher Zukunftsentwicklung für Europa mit Elementen von Industrie-, Dienstleistungs-, Struktur- und Kohäsionspolitik kann und darf sich jedoch nicht auf die Energiewende alleine beschränken. Aufgabenfelder wie die Modernisierung der europäischen Verkehrsinfrastruktur, Investitionen in Bildung und Ausbildung, Förderung von altersgerechten Infrastrukturen und Wohnens sowie den Ausbau von öffentlicher Daseinsvorsorge muss ein künftiger Zukunftsentwicklungsplan umfassend abdecken. Die Verantwortung Europas als globaler Akteur hat vielschichtige Implikationen, wie aus einer bisher unveröffentlichten Studie von Powershift für die GUE/NGL im Europaparlament zu rohstoffpolitischen Aspekten notwendiger europäischer Industrieentwicklungen[24] hervorgeht. Die umfassende Berücksichtigung dieser muss kennzeichnender Bestandteil eines ganzheitlichen Ansatzes sein und auch damit diese Konzeption von anderen Vorschlägen abgrenzen.  

Eine aktive staatliche Industrie- und Dienstleistungspolitik sei erforderlich, um De-Industrialisierung zu verhindern und Arbeitsplätze im verarbeitenden Gewerbe, im Handel und in anderen Dienstleistungsbereichen zu sichern, stellen denn auch die ExpertInnen des Info-Instituts in einer zusammenfassenden Studie der politischen Positionen diesbezüglich links der Mitte fest[25]. Die kapitalistische Wirtschaftsordnung mit ihrer konsequenten Orientierung an Wachstumsgrößen stehe im Gegensatz zu den öffentlichen Interessen unserer Gesellschaft. Eine Abkehr vom neoliberalen Kurs führe keinesfalls zum Stillstand technologischer Entwicklung. Ein ausgeklügeltes industriepolitisches Konzept decke vielmehr grundlegende Anforderungen, z.B. nach mehr sozialer Gerechtigkeit, Partizipation, Ökologischem Umbau und nachhaltige Friedenspolitik ab, sodass die Identifikation in diesem Themenbereich gesichert scheint.  

Ein solches Konzept darf nicht als neuer „grüner Kapitalismus“ wie weiter oben angesprochen entwickelt werden. Ohne klare Strukturen einer demokratischen Beteiligung und Steuerung liefe die künftige Entwicklung lediglich auf den alten Gleisen kapitalistischer Profitmaximierung, während die Interessen der Betroffenen, der Kommunen und Regionen, der Beschäftigten und Verbraucher allenfalls zweiter Sieger blieben. Deshalb muss die Gesellschaft auf allen Ebenen beteiligt werden und Instrumente z. B. der Rekommunalisierung, der Gründung von Genossenschaften oder die Bildung von Energiebeiräten in ein Zukunftsprogramm für Europa einfließen.  

Zweifellos: akut kommt es darauf an, die richtigen Maßnahmen zur Re-Regulierung der Finanzmärkte und der Stabilisierung der Realwirtschaft rasch umzusetzen. Das ist bisher allenfalls in Ansätzen sichtbar. Parallel dazu bedarf es einer umfassenden strategischen Neuausrichtung, um aus der Krise ohne Katastrophe für die realwirtschaftliche Entwicklung und damit für die Arbeits- und Lebensbedingungen herauszukommen.  

Dazu ist ein Ausgleich zwischen den Mitgliedstaaten unabdingbar. Er muss auf einem ökonomisch soliden Fundament stehen. Die Akzeptanz der EU durch die Menschen, insbesondere einer stärkeren Integration hängt wesentlich von einer demokratischen Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftspolitik ab. Sie muss eine nachhaltige und ökologische wirtschaftliche Entwicklung und Beschäftigung fördern. Wir entscheiden: wie wir künftig in Europa leben und arbeiten wollen.  

Gute Arbeit, hohe soziale Sicherheit und nachhaltige ökologische und ökonomische Entwicklung wären Prämissen und Prädikate für ein europäisches Zukunftsmodell für das es zu werben gälte. Auf europäischer Ebene impliziert dies auch das Werben für andere gesellschaftliche und damit im Resultat politische und schlussendlich parlamentarische Mehrheiten. Und nur mit Initiativ- und Kontrollrechten des Europaparlaments, klarer Kompetenzverteilung zwischen nationalen Parlamenten und Europäischen Parlament, einer Kontrollfunktion des Wirtschafts- und Sozialausschusses und des Ausschusses der Regionen sowie von nationalen Egoismen weitgehend befreiten Legislativ- und Exekutiv-Institutionen wäre ein solches Konzept auch nachzuhalten. Ein solches Konzept gilt es auch und gerade für den heute schon absehbaren Verfassungsprozess[26] zu entwickeln, der gesellschaftlichen Linken als Angebot zu unterbreiten und dafür als Europäische Linke einzustehen. Ohne ein schlüssiges, glaubwürdiges und dadurch überzeugendes Konzept der Linken für Europa besteht die Gefahr, dass das autoritäre Regierungseuropa zur Durchsetzung neoliberaler und neokonservativer Politik, letztlich zur Wahrung der Interessen des Kapitals verfestigt wird. Jeremy Riffkin sollte besser nicht recht behalten, wenn er prophezeite: "Am Ende der Moderne steht eine neue Barbarei.[27]"


 

 
[1] http://www.spiegel.de/auto/aktuell/absatzkrise-hohe-rabatte-fuer-autos-a-861482.html - Abruf 23.10.2012

[2] http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/jugendarbeitslosigkeit-kostet-jaehrlich-153-milliarden-euro-a-862921.html Abruf 23.10.2010

[3] http://www.rosalux.de/publication/38260/die-krise-in-europa-und-die-erfolge-des-rechtspopulismus.html Abruf 25.10.2012 und Michael Oswald „Rechtsruck in Hellas“, Blätter für deutsche und internationale Politik 10/2012

[4] http://www.socialistsanddemocrats.eu/gpes/media3/documents/3542_DE_cohesion_policy_de_100415.pdf - Abruf 25.10.2012

[5] http://www.axel-troost.de/article/6371.euro-zone-vor-dem-ende-rettung-durch-kurzfristig-entschiedenes-handeln-mit-einer-vision-fuer-europa.html - Abruf 25.10.2010

[6] http://europa.eu/legislation_summaries/enterprise/industry/et0005_de.htm

[7]EURO News Interview vom 15.10.2012 http://www.euronews.com/2012/10/15/antonio-tajani-on-smes-strategy-and-new-economy/ 22.10.2012

[8] Mitteilung der Kommission COM(2012)/3 "Eine stärkere europäische Industrie bringt Wachstum und wirtschaftliche Erholung"

[9] https://www.thomas-haendel.eu/de/article/8133.eu-freihandelsabkommen-galgenfrist-fuer-afrikanische-staaten-verlaengert.html - Abruf 23.10.2012

[10] http://www.guengl.eu/showPage.php?ID=9550&LANG=3&GLANG=1 - Abruf 23.10.2012

[11] http://www.axel-troost.de/article/5211.eine-europaeische-ausgleichsunion-a-8211-die-waehrungsunion-2-0.html - Abruf 25.10.2012

[12] IMK 66/2011

[13] In Deutschland wurden mehr als zehn Billionen Euro Vermögen in Form von Geld und Immobilien angehäuft. Das entspricht den Staatsschulden aller 27 EU-Staaten von rund 10,5 Bil. €. Die Privatvermögen in Europa betragen sage und schreibe rund 34 Bil. €.

[14] DGB Bundesvorstandsverwaltung, Abteilung Wirtschaft, Finanzen und Steuern: Ein Marshallplan für Europa - Krise bekämpfen, Europa zukunftsfähig machen; 3. Entwurf 20.09.2012

[15] Der Marshallplan war ein großes Wiederaufbauprogramm nach Faschismus und Zweiten Weltkrieg, welches dem an den Folgen des Krieges leidenden Westeuropa zugute kam. Es bestand aus Krediten, Rohstoffen, Lebensmitteln und Waren. Er wurde am 3. April 1948 vom Kongress der Vereinigten Staaten verabschiedet und sollte vier Jahre dauern. Von 1948–1952 leisteten die USA den bedürftigen europäischen Staaten Hilfen im Wert von insgesamt 13,1 Milliarden Dollar. Im Jahr 2008 wären dies preisbereinigt rund 78 Milliarden Euro gewesen.

[16]DIW, Wochenbericht Nr. 25 2012

[17]Die Mitbestimmung 9-2012, Seite 34

[18] ARD Presseclub, 16.05.2011

[19]Die Mitbestimmung 9-2012, Seite 34

[20] http://www.welt.de/dieweltbewegen/article106186532/Griechen-wollen-Strom-ohne-Leitungen-exportieren.html - Abruf 25.10.2012

[21] Financial Times Deutschland, Print-Ausgabe vom 29.06.2011

[22] http://www.spiegel.de/wissenschaft/technik/erneuerbare-energien-norwegen-will-europas-akku-werden-a-834472.html - Abruf 25.10.2012

[23] http://www.die-linke-thl.de/themen/themen_a_z/e_h/energierevolution/ - Abruf 25.10.2012

[24] Powershift e.V. - "Rohstoff- und entwicklungspolitische Dimensionen einer europäischen Industriepolitik zur Förderung der Elektromobilität und Erneuerbaren Energien" - November 2011

[25] Info-Institut Saarbrücken "Bestandsaufnahme zur Positionsbestimmung ausgewählter Parteien und Institutionen zum ökologischen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft" - März 2012

[26]European Council, Interim Report "Towards a genuine economic and monetary Union" - 12.10.2012, und Reflection Note by the Representatives of the European Parliament "Towards a real Economic and Monetary Union - Building capacity to decide" - 1.10.2012

[27] Jerem Riffkin„Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft“, Campus Verlag 1995

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