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16.09.2014, Thomas Händel

Soziales Europa

Arbeitslosigkeit, Armut, zersplitterter Arbeitsmarkt – wir stehen vor großen Herausforderungen.

Ein Beitrag von Thomas Haendel, Vorsitzender des Beschäftigungs- und Sozial Ausschusses des Europäischen Parlaments

Die Wahl zum Vorsitzenden des Ausschusses für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten ist für mich eine große Ehre und Herausforderung. Seit bald 45 Jahren arbeite ich in verschiedenen Funktionen für die Belange von Beschäftigten und sozial Benachteiligten, in 35 Jahren als hauptberuflicher Gewerkschafter genauso wie als Gründer und Gesellschafter eines Bildungsinstitutes für BetriebsrätInnen und GewerkschaftInnen und als Arbeitsrichter am Landesarbeitsgericht. Ich freue mich darauf, mit den Fraktionen im Ausschuss eng zusammenzuarbeiten, um die anstehenden Aufgaben in Angriff zu nehmen.

Wir stehen vor historischen Herausforderungen. Die Arbeitslosigkeit in Europa liegt auf Rekordniveau, fast ein Viertel der Menschen in Europa lebt in Armut oder ist armutsgefährdet. Immer weniger Menschen in Europa haben eine unbefristete Arbeit mit Löhnen über der Armutsgrenze. Prekarität frisst sich wie ein Krebsgeschwür durch die Gesellschaften Europas. Das ist einer modernen Gesellschaft nicht würdig - schon gar nicht in der reichsten Periode Europas.

Diskutiert werden muss deshalb auch über ein europäisches Mindestlohnniveau. Vordringlichste Aufgabe ist aber aktuell die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit. In manchen Mitgliedstaaten sind 60 Prozent junge Menschen ohne Arbeit und anständiges Einkommen. Eine ganze Generation wird ihrer Zukunft beraubt. Das ist ein Desaster für ein soziales Europa. Die Europäische Union hat die Verpflichtung, das gegebene Versprechen auf Wohlstand und Beschäftigung einzulösen. Jugendgarantien alleine werden das nicht bewerkstelligen. Ein umfassendes Investitionsprogramm in neue Arbeit ist überfällig. Eine Schlüsselrolle spielt dabei die Re-Industrialisierung Europas. Entsprechende Initiativen der Kommission wird der Beschäftigungsaussschuss sicher begrüßen. Europa braucht einen "Marshallplan" 2.0.

Die Bürger der Europäischen Union erwarten jedoch nicht nur quantitative, sondern auch qualitative Verbesserungen, wie beispielsweise durch verbesserte Regelungen zu Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz oder durch die verbesserte Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten, um Missbrauchstatbeständen wie Schwarzarbeit oder Umgehung von Arbeitnehmerschutz-Regelungen z. B. bei Entsendung zu begegnen. Es spielt eben nicht nur eine Rolle, ob jemand eine Beschäftigung hat oder nicht, sondern auch, unter welchen Bedingungen Menschen ihre Arbeit verrichten sollen resp. können. "Hauptsache Arbeit - gleich zu welchen Bedingungen" ist nicht die Perspektive eines sozialen Europa. Hier hat die Europäische Union eine besondere Verantwortung. Dies fällt explizit in ihre Kompetenz.

Will man zukünftig einen gemeinsamen europäischen Arbeitsmarkt, muss man sich auch verstärkt mit gemeinsamen und starken Arbeitsrechten auseinandersetzen. Nach wie vor verzeichnen wir Beschäftigtenkategorien unterschiedlichen europäischen Rechts. Dies leistet der weiteren Segmentierung des Arbeitsmarktes Vorschub. Wir werden gemeinsam mit Rat und Kommission beraten müssen, wie wir Ausnahmen reduzieren und Umgehungen von Gesetzen erschweren. Nötig sind endlich wirksame Maßnahmen gegen sozialen Rückschritt und für die Durchsetzung des Prinzips "Gleicher Lohn und gleiche Rechte für gleiche Arbeit am gleichen Ort".

Diskutiert werden muss die Frage einer Stärkung des europäischen Arbeitnehmerbegriffs, um Scheinselbständigkeit, missbräuchliche Werkvertragsvergabe und neue "Tagelöhnerei" z. B. über 0-Contracts u.a. zu unterbinden. Und eine Neufassung der europäischen Arbeitszeit-Richtlinie muss die positiven Wirkungen der bisherigen Richtlinie verstärken und nicht die Flexibiltät ins Unendliche erhöhen. Die Verteidigung und Stärkung unserer Arbeits- und Sozialstandards muss deshalb strikter Maßstab für die Debatte um die angestrebten neuen Freihandelsabkommen sein. Arbeits- und Sozialstandards sind keine Handelshemmnisse.

Mein Engagement wird sich daran orientieren, die soziale Dimension der Europäischen Union insgesamt zu stärken. Die praktizierte Politik der Krisenbewältigung der letzten Jahre hat die Probleme nicht gelöst sondern sogar noch verschärft. Es ist an der Zeit umzusteuern. Dafür werde ich mich im Beschäftigungs- und Sozialausschussstark machen.

Ein sozial gerechtes und solidarisches Europa geht nur mit Guter Arbeit, guten Löhnen, guten Renten und einem sozialem Fortschritt für alle, der vor Armut schützt und ein Leben ohne Angst sichert. Ausreichende neue Arbeit - und eine Erhöhung der angestrebten Beschäftigungsquote - wird nur mit massiven Investitionen und deren Koppelung an nachprüfbare Beschäftigungsziele zu erzielen sein. Die Europäische Union sollte für die Menschen in einem Atemzug mit Hoffnung und guten Lebensperspektiven genannt werden - nicht mit Angst und Depression.

Dieser Text wurde zuerst am 16.09.2014 in Volume 8 des monatlichen Newsletter der GD EMPL der Europäischen Kommission veröffentlicht.