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06.11.2013, Thomas Händel, Frank Puskrev

Gesellschaftliche Regulierung statt ultraliberalem Laissez-faire

In Europa wird die Zielsetzung der Strategie 2020 vertieft: immer mehr Bereiche der sollen für private Anleger und Wirtschaftsinteressen geöffnet werden. Statt Wettbewerb über Qualität zu steuern, werden Löhne und Arbeitsbedingungen faktisch zu Wettbewerbsfaktoren degeneriert. Statt den ungehinderten Wettbewerb durch soziale Mindeststandards zu begrenzen, ist das Signal genau entgegengesetzt: Die Staaten sollen auf Grundlage der Binnenmarkt-Freiheiten „wettbewerbsorientiert“ wirtschaften.

Längst geht es nicht mehr um die bloße „Zurückdrängung des Staates“ aus der Wirtschaft. Es geht um den Umbau dieses Europa zur „marktkonformen Demokratie“. Die Umformung Europas zum „ultraliberalen Laissez-faire Staat“ wird betrieben, der sich als Zusammenschluss von Staaten lediglich darauf beschränken soll, die Schädigung eines durch einen anderen zu verhindern (Hoffman). Der Urvater der Neoliberalen, Friedrich August von Hayek wäre begeistert. „Eine immer komplexere Welt bedarf nicht mehr, sondern weniger Staat“ (Urbansky) lautet das Credo seiner Enkel.

Der Vorschlag, des Präsidenten des Europäischen Rats, Herman Van Rompuy und anderen europäischen Spitzenpolitikern wie Juncker und Draghi weist in diese Richtung. Über bilaterale Verträge oder eine Koalition der Willigen soll die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten strikter koordiniert, die Arbeitsmärkte noch weiter dereguliert und damit die internationale Wettbewerbsfähigkeit gesteigert werden. Der Kern des Rompuy-Papiers ist die über Verträge zu fixierende Zementierung des neoliberalen Wirtschaftsmodells auch in der Arbeits- und Sozialpolitik. Finanzielle Anreize für die Mitgliedsstaaten sollen die Einhaltung dieser Verträge garantieren helfen. Damit würde die verheerende Troika-Politik nun zur Endausbaustufe eines abschreckenden Europa. Mit demokratischem Klimbim halten sich die Verfasser erst gar nicht auf. Zwar sollen nationale Parlamente in diesem System besser informiert werden, die eigentlichen Akteure aber sind die Regierungen – die Rechte des europäischen Parlaments im Sinne des Abbaus des europäischen Demokratiedefizits sind erst gar nicht erwähnt.

Statt als Konsequenz der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise die europäische Sozialstaatlichkeit und Demokratie zu stärken sowie die Finanzmärkte strikt zu regulieren, droht eine weitere Aushöhlung und Schwächung – eine marktkonforme Demokratie oder „Kapitalismus ohne Demokratie“ wie Streeck schreibt.

Dagegen regt sich aber gelegentlich Widerstand. Die Versuche im Parlament zur Re-Regulierung der Finanzmärkte, der Arbeitsmärkte und der Verbraucherrechte stehen den ständigen Versuchen von Rat und Kommission gegenüber, unter dem Deckmantel der Harmonisierung der mittlerweile 28 verschiedenen Systeme der Wirtschaftslenkung und -regulierung die Sozialsysteme weiter auszuhöhlen und Rechte, vor allem von ArbeitnehmerInnen, zu einzuschränken oder gleich ganz abzuschaffen.

Die EU-Beschäftigungspolitik folgt ganz offenkundig folgender Logik: die wirtschaftlich „Nützlichen" werden gesucht und umsorgt – weltweit. Die „Brauchbaren“ aus der EU sollen mit dem "Abbau von Bestandschutz-Maßnahmen" flexibel dahin bewegt werden, wo sie benötigt werden - europaweit. Die aus dem Arbeitsmarkt "Herausgefallenen" sollen in prekären Beschäftigungsverhältnissen irgendwie beschäftigt werden, und die ökonomisch „Überflüssigen“ sollen möglichst kostengünstig "verwahrt" werden. Diese ständige Auseinandersetzung lässt sich exemplarisch an einigen Beispielen veranschaulichen.

Die Linke hat in der Vergangenheit die Dienstleistungsrichtlinie heftig kritisiert. Nun sollte der Stand der Umsetzung und weitere Schritte beschrieben werden. Eine rechte Mehrheit des Parlaments war allerdings nicht der Meinung, dass die Erbringung von Dienstleistungen auf dem Binnenmarkt irgendetwas mit sozialen Schutzrechten oder den Rechten der ArbeitnehmerInnen zu tun hat. Alle diesbezüglichen Änderungsanträge wurden niedergestimmt. Der beschlossene Forderungskatalog lässt keine Zweifel aufkommen: Dienstleistungen sind „Jobmotor“ und dürften nicht durch Hürden wie etwa Schutzrechte für ArbeitnehmerInnen behindert werden. Dem hätten sich die Mitgliedstaaten gefälligst unterzuordnen. Damit ist klar: vor allem Konservative und Liberale scheren sich einen Dreck um Tarifverträge, soziale Schutzstandards oder ähnliches. Alles soll den Freiheiten der Unternehmen untergeordnet werden - das Alibi-Argument der Schaffung von Jobs wie eine Monstranz vor sich hertragend.

Ein weiteres Beispiel für diese Ausrichtung der europäischen Sozial- und Beschäftigungspolitik ist der Prozess der Überarbeitung der Entsenderichtlinie. Sie sollte eigentlich grenzüberschreitende Entsendung von ArbeitnehmerInnen vereinfachen und die Rechte der Beschäftigten sichern. Hier geht es um die oben erwähnten wirtschaftlich „Brauchbaren“, die flexibel dahin bewegt werden, wo sie benötigt werden – europaweit. Entsandt wird heute oftmals nicht mehr zur Erbringung von Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat. Arbeitnehmer-Entsendung ist heute oftmals eine Art moderner Sklavenmarkt, der dazu dient, die Lohnkosten zu drücken. Mit Briefkasten-Firmen, oft in der Verbindung mit illegaler Leiharbeit, werden Tariflöhne und Mindestarbeitsbedingungen unterlaufen. Im Bauhaupt- und Nebengewerbe werden damit allgemeinverbindliche Tarifverträge ausgehebelt. In Schlachthöfen werden oft Arbeitnehmer aus Südosteuropa zu Hungerlöhnen in Gemeinschaftsunterkünfte eingepfercht, für die sie überhöhte Miete zahlen müssen. Den Arbeitnehmern werden oft gar keine Arbeitsverträge oder solche in einer anderen Sprache vorgelegt, die sie nicht überprüfen können, da sie keine Informationen über die Mindestbedingungen für entsandt Arbeitnehmer haben. Die Kontrollbehörden sind oft hoffnungslos überfordert angesichts der Anzahl der entsandten Arbeitnehmer.

Die Durchsetzungs-Richtlinie der Entsende-Richtlinie sollte diese Praxis eigentlich beenden. Schon der Vorschlag der Kommission sah jedoch vor, sogar die Kontrollrechte der Mitgliedstaaten einzuschränken. Auch der Bericht des Beschäftigungsausschusses – mit knapper Mehrheit verabschiedet - schützt eher die Entsende-Firmen als die entsandten Arbeitnehmer. Arbeitnehmer müssen jedoch Löhne bekommen, die ihnen nach Gesetz und Tarifvertrag zustehen. Es braucht klare Kriterien für Entsende-Unternehmen und entsandte Arbeitnehmer. Die Kontrollrechte der Mitgliedstaaten müssen beibehalten und ausgeweitet werden. Bei Löhnen und Arbeitsbedingungen muss das Günstigkeitsprinzip und nicht das Herkunftslandprinzip gelten. Die Beweislastumkehr muss es entsandten Arbeitnehmern im Zweifelsfall erleichtern, ihre Ansprüche geltend zu machen. Die Generalunternehmerhaftung auch für Subunternehmer ist ebenso unverzichtbar wie ein Verbot von Briefkasten-Firmen, Schein-Entsendung und Schein-Selbständigkeit. Verträge und andere wichtige Dokumente müssten in allen Sprachen der EU erhältlich sein. All dies - Fehlanzeige.

Wer jetzt noch zweifelt ob der Intentionen der Mächtigen in wirtschaftlicher Hinsicht, dem sei ein Blick in den Binnenmarkt-Ausschuss gegönnt. Hier wurde eine Richtlinie federführend verhandelt, der man ihre Brisanz auf den ersten Blick gar nicht ansah. Die Kommission hatte die zunächst einleuchtende Idee, auch den europäischen Markt bei der Vergabe von Konzessionen durch öffentlicher Auftraggeber zu regulieren und für Transparenz zu sorgen. Diese Richtlinie hätte den Druck zur europaweiten Ausschreibung von Konzessionen auch bei der Wasserversorgung durch Stadtwerke und kommunale Zweckverbände erheblich erhöht. Bisher konnten Konzessionen mangels eines europäischen Rechtsrahmens auch direkt von der öffentlichen Hand vergeben werden. Dies wollte die Europäische Kommission ändern. Ab einer Auftragshöhe von 8 Mio. Euro wäre eine europaweite Ausschreibung von Konzessionen Pflicht, auch bei einer Neuvergabe von bereits bestehenden Konzessionen. Zwar ließ dies auch die Bewerbung von städtischen Unternehmen zu - bewerben können sich allerdings auch große, europa- und weltweit tätige private Konzerne mit all ihren Möglichkeiten. Die weltweit operierenden Wassermultis rieben sich schon die Hände. Schließlich waren sie auch bei der Entstehung dieses Gesetzentwurfes nicht ganz unbeteiligt, wie die Zusammensetzung des beratenden Gremiums bei der Kommission vermuten lässt. Es besteht zu 80 Prozent aus Industrievertretern. Soziale Kriterien oder gar eine Tariftreue schreibt die Richtlinie entgegen unserer Forderungen nicht vor. Da viele Gemeinden verschuldet sind, hätte das zu Liberalisierung und Privatisierung geführt, den Preis zahlen dann die Arbeitnehmer durch Druck auf die Löhne und die Bürger durch explodierende Wasserpreise.

Erst der öffentliche Druck ließ die Stimmung kippen. Das europäische Bürgerbegehren right2water formulierte den Widerstand. Fast zwei Millionen Unterschriften unter eine entsprechende Petition waren unendlich wichtig. Wochenlang überhäuften Bürgerinnen und Bürger die Europaabgeordneten mit Protestnoten, um die Pläne zur europaweiten Privatisierung von Wasser zu verhindern. Erst nach dieser intensiven Intervention, auch von Kommunen, Gewerkschaften und LINKEN, rückte die Kommission von ihren Plänen ab. Sie hat – zumindest in dieser Frage - verstanden, dass die Sorgen der Menschen nicht einfach vom Tisch zu wischen sind. Denn Wasser ist und bleibt ein Menschenrecht und darf nicht den Marktregeln unterworfen werden.

Diese wenigen Beispiele aus der täglichen Praxis im europäischen Parlament verdeutlichen schon, wessen Geist die herrschende Politik atmet und welcher Anstrengung es Bedarf, diesen hin und wieder zu durchbrechen. Nicht anders ist dies im finanzpolitischen Bereich. Man sollte annehmen können, dass nach den Krisen der Jahre 2000 bis 2002 (New Economy Blase) und seit 2008 (zunächst Finanz-, heute gern als Haushalts- oder Schuldenkrise verfälscht) ein klares Umdenken in Sachen Deregulierung eingetreten wäre. Man würde, als täglich arbeitender und auf den Lebensabend sparender Mensch davon ausgehen, dass diese Politiker die Folgen ihrer mehr als dreißig Jahre währenden Entfesselung der Finanzmärkte erkennen und zügig die Werkzeuge auspacken, um diese wieder an die Kette zu legen.

Und genau diesen Eindruck vermittelten auch die versammelten Granden der Europäischen Politik, von Merkel, Schäuble über Barroso bis zu Juncker und EZB-Chef Draghi. Eilig wurden Pakete geschnürt, Gesetze entworfen und den WählerInnen das Blaue aus dem finanzpolitischen Himmel versprochen. Bei näherer Betrachtung hat dieser Aktivismus - und vor allem seine Ergebnisse – im Wesentlichen keine andere Intention, als das System etwas „pannenfreier“ funktionieren zu lassen. Einige Beispiele sollen dies verdeutlichen.

Leerverkäufe und Kreditausfallversicherungen (CDS) haben zweifellos massiv zur Verschärfung der Krise beigetragen. Sie waren zu reinen Spekulationsanlagen verkommen, die einige in der Finanzindustrie als ihre persönlichen Gelddruckmaschinen betrachten. Dummerweise gingen - und gehen weiterhin - dabei ganze Volkswirtschaften zugrunde. Im Parlament wurde versucht Spekulationen auf diesem Gebiet einen Riegel vorzuschieben. Ungedeckte Leerverkäufe sollten de facto verboten werden und insbesondere CDS auf Staatsanleihen besonders reguliert werden. Dies wäre ein wichtiger Schritt in der Richtung gewesen, die politische Kontrolle über die Finanzmärkte zu erringen. Letztlich durchgesetzt haben sich allerdings die Verwässerungsversuche insbesondere von Christdemokraten und Ultrakonservativen, denen die Interessen der Finanzplätze London und Frankfurt näher liegen als die der Mehrheit der Menschen in Europa. Die Resultate aus den Verhandlungen mit Rat und Kommission gleichen einem Schweizer Käse. Ausnahmen über Ausnahmen, undurchsichtige Schwellenwerte und unklare Zuständigkeiten setzen am Ende „Grenzchen“, die Juristen der großen Finanzkonzerne schon vor Beschlussfassung auf Schlupflöcher durchsucht und ihre Geschäftspolitik darauf ausgerichtet haben. Dabei bräuchte Europa dringend einen Finanzsektor, der den gesellschaftlichen Entwicklungen und nicht den Spekulanten dient. Den gäbe es u.a. nur mit einer strikten Regulierung von CDS, einem absoluten Verbot von ungedeckten Leerverkäufen und einer starken europäischen Finanzaufsicht, die im Krisenfall mit harten Durchgriffsrechten gegenüber den Mitgliedsstaaten Spekulationen einen Riegel vorschieben und die Zerstörung ganzer Volkswirtschaften verhindern kann.

Auch in der Steuerpolitik kommt man auf europäischer Ebene nur langsam voran. Immerhin hat das Parlament in einer Entschließung harte Bandagen von Rat, Kommission und den Mitgliedstaaten gefordert, um die vormals geöffneten Pforten der Steuervermeidung und Steuerhinterziehung schnell zu schließen. Schließlich entgehen dem europäischen Fiskus so jährliche Einnahmen von fast 1 Billion Euro. Dagegen hängt ein, vom Parlament schon verwässerter, Vorschlag der Kommission zu einer gemeinsamen konsolidierten Körperschaftssteuer Bemessungsgrundlage seit Monaten im Rat und hat wenig Chancen, in naher Zukunft verabschiedet zu werden.

Die Einrichtung der europäischen Finanzaufsicht zog sich über viele Jahre. Das Parlament hatte den Weg für eine europäische Lösung der Kontrolle der Finanzmärkte schon 2010 freigemacht. Angesichts der Macht der Finanzindustrie sind gerade die kleineren Mitgliedsstaaten mit eigenen Aufsichtsstrukturen maßlos überfordert. Gegenüber einem Wettbewerb um die schlechteste Kontrolle haben die internationalen Großbanken unter den aktuellen Umständen die Qual der Wahl. Die gefundene Regulierung war und ist nicht perfekt. Mit dieser Aufsicht können Spekulationskrisen weder effektiv bekämpft noch verhindert werden. Ausstattung und Personal sind unzureichend, die 3-Standorte-Lösung - London, Paris, Frankfurt – stellt die wirksame Arbeitsfähigkeit in Frage. Und schließlich entspricht die enge Anbindung an die EZB eher einer Umschulung vom Dieb zum Polizisten. Und dennoch dauerte es bis Herbst 2013, bis zwischen Rat, Parlament und EZB eine Einigung darüber getroffen werden konnte, wer welche Aufgaben übernimmt, wer wen wie kontrollieren darf und welche Unterlagen die EZB bereit ist zur Verfügung zu stellen. Eine Posse der demokratischen Institutionen, die sich von eingesetzten Bankern und nationalistischen Partikularinteressen an der Nase herumführen lassen.

Und dennoch: einige Schritte konnten gegangen werden, Re-Regulierung muss weiter auf der Tagesordnung stehen. Die außerparlamentarische Widerständigkeit gegen die Austeritätspolitik der Herrschenden wächst. Der Demontage des Sozialstaats und der Macht der großen Kapitalinteressen und Finanzmächtigen über die Gesellschaft stellen sich immer öfter immer mehr Menschen in den Weg. Das macht Mut diese Auseinandersetzung weiter zu führen. Dafür brauchen wir jetzt auch andere parlamentarische Mehrheiten. Die geht nur mit einer starken Linken im EP.